Maedchenjagd
Familien.
Sie wendete und fuhr zu einem Feld, das sie auf dem Hinweg passiert hatte. Mit Vollgas bog sie in einen Ackerweg ein. Das Auto war erst wenige Tage zuvor gewaschen worden, nun klebte der Staub daran, den sie mit ihren Reifen aufwirbelte. Sie stellte den Wagen ab. Auf beiden Seiten wuchs Gemüse, so weit das Auge reichte. Sie holte das Gewehr vom Rücksitz und feuerte in das Feld. Die Explosion erschütterte die nächtliche Stille, und mit Wucht schlug der Kolben gegen ihre Schulter. Ihr Vater war seit zehn Jahren tot. Sie wollte sichergehen, dass die todbringende Waffe ihren Dienst nicht versagte. Eilig warf sie sie wieder auf den Rücksitz und kehrte mit durchdrehenden Reifen auf die Hauptstraße zurück.
Sie trug die Schuld an dem, was ihrer Tochter zugestoßen war. Alles hatte mit der Nacht begonnen, in der sie mit Richard geschlafen hatte, eine verheiratete Frau, die herumvögelte, während Mann und Tochter daheim warteten. Doch nein, John war nicht zu Hause gewesen. Er hatte im Dunkeln gelauert, hatte ihr nachspioniert, um sie dabei zu ertappen, wie sie tat, was er ihr seit Jahren unterstellt hatte.
Langsam wich die Dunkelheit dem bewölkten Grau eines südkalifornischen Morgens. Sie hörte die Vögel in den Bäumen an der Straße nach Oxnard. Hier und da erwachte das Leben.
Als sie den Honda vorsichtig in seine Straße lenkte, sah sie einen dunkelgrünen Lieferwagen am Straßenrand stehen, dessen Hecktüren offen standen. Unwillkürlich blickte sie nach hinten zu dem Gewehr; ihr Puls raste, und ihr Magen rebellierte. Auf der Straße rührte sich nichts. In einem offenen Fenster stand ein Fernseher und plärrte auf spanisch. Sie fuhr an den Bordstein, ihre schwitzenden Hände umklammerten fest das Lenkrad. Kurz ließ sie los, um ihre Hände an der Jeans abzuwischen und nach dem Gewehr zu greifen, das sie mit dem Lauf nach unten neben sich abstellte.
Als irgendwo ein Hund bellte, schrak sie auf und nahm den Fuß von der Bremse. Der Motor lief noch, und das Auto machte einen Satz nach vorn.
Nachdem sie so lange auf die Haustür gestarrt hatte, dass ihr das Bild vor Augen verschwamm, blitzte plötzlich etwas Rotes auf. Sie drückte das Gaspedal durch und war innerhalb von Sekunden vor dem Haus. Sie machte eine Vollbremsung, schaltete, ohne darüber nachzudenken, auf Parkposition und schnappte sich das Gewehr. Mit ohrenbetäubendem Lärm schlug der Lauf auf der Motorhaube auf. Er kam aus dem Haus, war auf halbem Weg zum Auto, bemerkte sie und blieb abrupt stehen. Breitbeinig stand er da, und auf seinem Gesicht zeichnete sich Schrecken und Verwirrung ab.
Für einen kurzen Augenblick flammte ihr Verstand auf und bahnte sich seinen Weg in den Finger am Abzug. Ein winziger, lichter Moment, bevor sie geblendet wurde. Ihr Körper wich einige Millimeter zurück, doch das Licht war verschwunden, und vor ihr war nur mehr roter Stoff, unter dem sein Herz schlug.
Sie drückte ab.
Die Wucht der Gewehrkugel warf ihn auf den Boden. Arme und Beine wirbelten durch die Luft. Der Schuss hallte in ihrem Kopf wider. Ein klaffendes Loch erschien in der Mitte des roten Sweatshirts, aus dem Blut hervorsprudelte. Sie ertrank in einem schäumenden Meer aus rotem Blut. Shanas Blut, jungfräuliches Opferblut. Ihre Kehle schnürte sich zu, Schleim tropfte ihr aus der Nase, und ein weiteres Mal drückte der fremde, nicht zu ihr gehörende Finger den Abzug. Der Schuss traf ihn an der Schulter und trennte seinen Arm ab.
Die Knie wurden ihr weich, und das Gewehr fiel mit dem Kolben voran auf den Boden. Sie neigte den Kopf und erbrach Hühnerstückchen auf den schwarzen Asphalt. Sie umklammerte das Gewehr mit den Armen und hievte sich durch die offene Fahrertür in das Auto. Rühr dich, befahl sie ihrem erstarrten Körper. Rühr dich. Sie ließ das Gewehr fallen und griff nach dem Lenkrad. Nicht hinschauen. Fahren. Ihr Fuß gehorchte, und das Auto preschte vorwärts. Sekunden später war sie an der Kreuzung. Abbiegen. Atmen. Abbiegen. Fahren. Er war kein Mensch gewesen. Abbiegen. Fahren. Abbiegen. Die Sonne schien, doch vor ihr war nichts als ein schwarzer Tunnel. Sie wusste, sie war in der Hölle, und es gab keinen Weg hinaus. »Bitte, lieber Gott«, betete sie. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, zeig mir den Weg hinaus.«
[home]
9
Freitag, 15 . Januar
San Francisco, Kalifornien
L ily fuhr aus dem Schlaf auf. Ihre Kleider waren schweißnass, und nur langsam zog sich die entsetzliche Erinnerung an
Weitere Kostenlose Bücher