Maedchenlose
Augenblick flammte ein Streichhölzchen auf, eine kleine Laterne wurde angezündet und dicht vor Noras Gesicht gehalten. »Ei mein holdes Kind, wohin so spät? – mein schönes Fräulein, darf ich's wagen, meinen Arm und Geleit ihr anzutragen?« Solche und ähnliche Scherze wurden ihr unter lautem Gelächter zugerufen. Einen Augenblick stand sie fassungslos vor Angst und Grauen, dann preßte sie die Hand auf ihr wild klopfendes Herz und trat mit einem kühnen Schritt auf einen jungen Mann zu, der sich mehr zurückzuhalten schien. »Mein Herr,« sagte sie mit bebender Stimme, »ich bin auf dem Wege zum Arzt, es handelt sich um ein kostbares Leben, sonst wäre ich nicht hier; helfen Sie mir, mein Ziel zu erreichen.«
»Gern, mein Fräulein,« war die schnelle Antwort; er faßte ihre Hand und zog sie aus der Menge. »Macht Platz,« rief er den andern gebieterisch zu; »seien Sie ohne Sorge, ich werde Sie sicher geleiten.« Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, ging er neben ihr her, bis sie am Hause des Doktors angekommen waren, und zog die Nachtglocke. »Ich warte, bis man Ihnen aufmacht, – leben Sie wohl.«
»Ich danke Ihnen von Herzen,« stammelte Nora, sie hielt sich kaum noch aufrecht. Es schien ihr eine Ewigkeit, bis der Doktor sich fertig gemacht hatte und sie mit ihm zusammen den Rückweg antreten konnte.
Voll Todesangst eilte Nora in das Krankenzimmer, händeringend kam ihr Martha entgegen. »Gott sei Dank,daß Sie da sind, Fräulein, ich bin fast vergangen vor Angst, ich dachte, Ernachen stürbe mir unter den Händen«.
Der Doktor machte ein ernstes Gesicht, als er die kleine Patientin untersuchte: »Es ist, wie ich dachte, Diphtheritis. Es ist die höchste Zeit.« Mit ruhiger Besonnenheit traf er seine Anordnungen und wendete die mitgebrachten Mittel an; als keine Veränderung eintrat, sagte er ernst: »Ich muß zur Operation schreiten.«
»Ist es nicht möglich, zu warten, bis die Eltern zurückkehren?« fragte Nora zitternd.
»Eine Stunde Warten kann den Tod bringen«, erwiderte er entschieden – und Nora widerstrebte nicht länger. – –
Totenstille herrschte im Zimmer; der Doktor saß am Bett und verwandte kein Auge von dem kranken Kinde; Nora war in einen Stuhl gesunken und vor Erschöpfung eingeschlafen, da rollte ein Wagen, die Eltern waren zurückgekehrt. Bald danach wurde leise die Thür geöffnet, Frau von Westheim trat ein. Beim Anblick des Arztes fuhr sie zurück. »Sie hier, Herr Doktor? wer hat Sie gerufen?« Er winkte ihr Schweigen zu und deutete auf Erna, die blaß wie eine Leiche mit verbundenem Halse dalag.
»Was ist geschehen?« flüsterte sie angstvoll – – »mein Kind –.«
»Danken Sie es dieser tapfern jungen Dame, daß Sie Ihr Kind noch am Leben finden, gnädige Frau; eine Stunde später und es war zu spät.«
Verwirrt blickte sie von dem Arzt auf Nora, aber dannheftete sie den zum Tode erschrockenen Blick wieder auf die Kranke. »Ist sie außer Gefahr?«
»Ich hoffe es, wenn alle Vorsichtsmaßregeln genau beobachtet werden; ich habe dem Fräulein alles eingeschärft, sie scheint mir zuverlässig und treu wie Gold.«
Frau v. Westheim setzte sich nieder und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie, die Mutter, hatte ihr Kind vernachlässigt und war ihrem Vergnügen nachgegangen, die Fremde hatte es durch Treue und Aufopferung gerettet – es war ein Augenblick bittersten Selbstgerichts. –
Eine Stunde verrann in stummer Beobachtung, dann stand der Doktor auf: »Für den Augenblick ist keine Gefahr, nur Ruhe, Ruhe! Lassen Sie nur diejenigen bei dem Kinde sein, an die es am meisten gewöhnt ist.« Er trat auf Nora zu und rüttelte sie leise am Arm. »Stehen Sie auf, mein Kind, Sie müssen auf Ihren Posten, im Lauf des Vormittags komme ich, Sie abzulösen.«
Nora sprang auf und eilte mit geräuschlosen Schritten, des Arztes Platz am Bett des Kindes einzunehmen. Frau v. Westheim saß regungslos, sie sah und hörte nichts, ihr Blick war ganz nach innen gerichtet.
Zehntes Kapitel.
Neues Leben.
Angstvolle Tage folgten; zwar war die Macht der Krankheit gebrochen, aber noch war die tödliche Schwäche zu besiegen, die sich infolge der Operation des zarten Körpers bemächtigt hatte. Es galt vor allem, bei Tag und Nacht kein Auge von der Kranken zu verwenden und auf jedes Symptom zu achten, um die nötigen Maßregeln danach zu treffen. Frau v. Westheim und Nora hatten sich ganz in die Pflege geteilt, von zwei zu zwei Stunden lösten sie einander ab. Es hatte keine
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