Maedchenlose
auf der Promenade vor der Stadt spazieren; sie hatte noch nie diesen Weg eingeschlagen, denn bisher hatten sie sich immer im Garten aufgehalten, doch machte die kühlere Jahreszeit eine kräftigere Bewegung nötig. Sie waren noch nicht weit gegangen, als ihnen ein Offizier entgegenkam, der, als er sie erblickte, in freudiger Überraschung näher trat. Es war Herr v. Lilienkron, welcher erst vor ein paar Tagen aus B. zurückgekehrt war, und Nora konnte es nicht hindern, daß die helle Röte des Vergnügens in ihre Wangen trat und ihre Augen fröhlich glänzten bei diesem Wiedersehen, erschien er ihr doch wie ein Stück ihres vergangenen Lebens in der Heimat, kam er doch direkt von Elly.
»Mein gnädiges Fräulein, wie glücklich bin ich, Sie endlich zu treffen,« sagte der junge Offizier mit unverhohlenem Entzücken, »ich kann nur glauben, daß Sie bisher unter einer andern Gestalt hier umhergegangen sind, oder daß ein neidischer Dämon meine Augen blendete. Aber ich habe es Elly mit heiligen Eiden zugeschworen, daßich zu Ihnen dringen wolle, selbst wenn Drachen und böse Geister mir den Zugang sperren sollten.«
»Es ist nicht so schlimm damit, wie Ellys lebhafte Phantasie es sich ausmalt,« erwiderte Nora, »ich bin nur meist im Hause beschäftigt. Aber erzählen Sie mir von Elly, wie geht es ihr und ihrer lieben Mutter?«
»Im Vertrauen, ich fand Elly als herrschende Königin in ihrem Kreise, man huldigt ihr enorm, und es ist, auf Ehre, ein Wunder, daß ihr der kleine Lockenkopf nicht arg verdreht wird.«
»Wirklich? – davon schreibt sie mir kein Wort.«
»Nein, sie ist noch gar nicht eitel, ganz derselbe famose Kamerad, der sie mir immer war. Und von Ihnen, gnädiges Fräulein, haben wir so viel gesprochen, daß ich meine, Ihnen müßten alle Tage die Ohren geklungen haben«
So plauderten sie fort und gingen immer weiter; Nora wurde nicht müde, zu fragen und zu hören, bis eine leise klagende Stimme sie in die unmittelbare Gegenwart zurückrief: »Ich bin so müde, Nora, ich kann nicht mehr.« Erschrocken blickte das junge Mädchen auf die kleine Gefährtin, die sich blaß und matt an ihrer Hand fortschleppte. »Mein armer Liebling,« sagte sie, »wir sind zu weit gegangen, wir müssen ausruhen. Leben Sie wohl, Herr v. Lilienkron, mich ruft meine Pflicht.«
»Und darf ich hoffen,« fragte der Offizier, »Sie auf diesem Wege öfter zu treffen?«
Nora zauderte; einen Moment hatte sie Lust, die Frage zu bejahen, war es doch so süß, in der alten Weise mitjemandem zu verkehren – aber schon im nächsten Augenblick erkannte sie die Gefahr. »Nein«, sagte sie ernst und bestimmt, »nur der Zufall giebt einem solchen Zusammentreffen seinen Reiz; jede Absicht würde ihn zerstören.« Sie verneigte sich und trat mit Erna in einen der kleinen Vorgärten ein, welche hier jedes Haus von der Straße abschließen. »Wir ruhen ein Weilchen aus, mein Vögelchen«, sagte sie ermutigend, »dann fliegen wir mit frischer Kraft nach Hause.« Aber es war ein mühseliger Flug, sie mußte das ermüdete Kind halb ziehen, halb tragen, und ganz erschöpft langten beide endlich zu Hause an. Nora brachte die Kleine früh zur Ruhe und saß voll Sorge und Selbstvorwürfen an ihrem Bett, bis sie einschlief. Erst als Erna am nächsten Morgen frisch und wohl erwachte, fühlte sie sich wieder beruhigt.
Zu ungewohnter Stunde wurde Nora zu Frau v. Westheim beschieden, sie fand sie nachlässig in einem Fauteuil ruhend; ohne das junge Mädchen zum Sitzen einzuladen, begann sie sogleich in herbem Ton: »Ich sehe mich genötigt, Fräulein Diethelm, Ihnen meine ernste Mißbilligung auszusprechen. Sie haben das Vertrauen, das ich Ihnen auf Frau v. Mansfelds Empfehlung schenkte, gemißbraucht.«
»Ich, gnädige Frau?« fragte Nora tief erschrocken, »womit habe ich diesen Vorwurf verdient?«
»Sie haben einen Spaziergang mit meiner Tochter, zu dem Sie meine Erlaubnis unter einem falschen Vorwand einholten, zum Deckmantel eines Rendezvous mit einem Herrn gemacht; Sie haben sich nicht gescheut, mit diesemHerrn eine lange Unterhaltung auf öffentlicher Promenade zu führen und dabei die Kräfte des schwächlichen Kindes über Gebühr anzustrengen. Was haben Sie darauf zu sagen?«
Jeder Tropfen Blut war bei diesen Anklagen aus Noras Gesicht entwichen; sie zitterte so sehr, daß sie sich an dem Stuhl in ihrer Nähe festhalten mußte, aber sie fühlte, daß sie ihre Fassung nicht verlieren dürfe, und die heftige Erregung ihres Innern
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