Maedchenlose
unwiderstehliche Ahnung, daß er irgendwo krank liegt und meiner bedarf. – Hier, Nora, nimm diese Servietten, sortiere sie sorgfältig nach ihrem Muster und schreibe genau auf, wieviel du von jeder Sorte gefunden hast.«
Eine Zeit lang arbeiteten beide eifrig und schweigend fort, dann sagte Frau Diethelm: »War nicht Elly bei dir?«
»Sie ist eben gegangen; sie lud mich ein, morgen an einer Ausfahrt teilzunehmen, doch habe ich es abgelehnt.«
»Warum, mein Kind?«
»Ich möchte dich nicht gern allein lassen, liebe Mama.«
»Meine treue Nora, du denkst immer an mich, und ich fürchte, der Egoismus des Kummers läßt mich zu oft dich und die Anforderungen deiner Jugend vergessen. Du bist in diesem Frühling noch kaum im Freien gewesen, nimm daher die Einladung an; sei einmal von Herzen fröhlich mit deiner Freundin, erquicke dich an der Frühlingspracht draußen und bringe mir abends einen Hauch von Freude und Sonnenschein mit in meine trübe Einsamkeit.«
Nora trennte sich am nächsten Tage mit schwerem Herzen von ihrer Mutter, und fast wollte es ihr doch wie ein Unrecht vorkommen, sie zu verlassen. Aber mit jeder Minute fingen ihre Augen an, heller zu glänzen, ihre Schritte wurden elastischer, frohe Erwartung spiegelte sich in ihrem Gesicht. Sie war erst sechzehn Jahre alt und besaß das glückselige Vorrecht der Jugend, Kummer und Sorge für eine Zeit lang zu vergessen und den gegebenen frohenAugenblick froh und ungetrübt zu genießen. Elly jubelte hell auf beim Anblick der Freundin. »O nun ist alles gut«, rief sie, indem sie Nora wieder und wieder küßte und umarmte, »du glaubst nicht, wie verstimmt ich war, nichts schien mir lockend, aber nun werden wir uns köstlich amüsieren. Denke dir, mein Vetter Axel Lilienkron , dessen du dich als eines unreifen Kadetten erinnern wirst, hat sich uns heute als neugebackner Lieutenant vorgestellt und wird mit von der Partie sein. Er ist ein hübscher schlanker Bursche geworden; du weißt, wir waren immer gute Kameraden und haben uns von Kind auf geneckt und zusammen amüsiert.« Bald setzte sich die Gesellschaft in Bewegung; Frau von Mansfeld mit einer befreundeten Dame, Nora und Elly, ihr Bruder Arthur, der sich als Sekundaner in der Gesellschaft junger Damen noch etwas schüchtern bewegte, und einige jüngere Mädchen waren die Teilnehmer, der Lieutenant sollte erst später zu ihnen stoßen. Die erste Strecke war mit der Eisenbahn zurückzulegen; schnell blieb die Stadt mit ihren Wällen und Thoren zurück; an Alleen und Gärten, die im Schmuck des zartesten Maiengrüns prangten, flogen sie vorüber; jetzt tauchte zur rechten Hand der erste Streifen der See auf, welche die strahlende Bläue des Himmels in zauberischem Glanze widerspiegelte. Mit durstigen Blicken nahm Nora die ewig junge Schönheit der Natur in sich auf – ach, es war doch köstlich, so in die Frühlingswelt hinauszufliegen, die liebste Freundin zur Seite; seit Wochen hatte sie sich nicht so froh und leicht gefühlt, wie heute. Sie nahm es für eine glückliche Ahnung,daß der geliebte Vater bald zurückkehren, daß alle Sorge sich in Dank und Freude auflösen würde!
In O. verließ man die Eisenbahn und begab sich auf die Wanderung; die beiden Freundinnen sonderten sich ein wenig von den übrigen ab, um ungestört zu plaudern, bald heiter, wie frohe Kinder, bald ernst, wie erwachsene Mädchen, denen sich die Bedeutung des Lebens aufzuthun beginnt.
»Ich habe in diesen Tagen alle die Briefe wieder gelesen, die ich zu meiner Einsegnung erhalten habe«, sagte Elly, »und war zugleich beschämt und gerührt über die Liebe und die gute Meinung, die aus allen spricht. Ich habe doch noch so wenig gethan, um beide zu verdienen.«
»Vielleicht sind sie gerade darum so schön und so beglückend, weil sie uns als ein freies Geschenk zufallen«, versetzte Nora. »Erwerben könnten wir sie wohl nie, aber wenigstens können wir suchen, uns ihrer nicht unwert zu machen.«
»Ich habe mich jetzt oft gefragt, Nora, ob mein Leben wohl schon einen rechten Inhalt hat, der seiner höhern Bestimmung entspricht. Aber steht all unser Lernen, unser Malen und Klavierspielen, unsere feinen Handarbeiten und sonstigen Beschäftigungen in irgend einer Beziehung zur Ewigkeit?«
»Direkt wohl nicht, aber auch nicht in Widerspruch. Ich denke, alles, was uns befähigt, andere zu erfreuen oder ihnen zu helfen, alles, was uns tüchtig macht, unsern irdischen Beruf nach allen Seiten hin auszufüllen, das hatauch seine volle
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