Maedchenlose
eine unendliche Zeit seitdem vergangen, und wie eine Ewigkeit dehnen sich die fünf Wochen, die bis zu Deiner Rückkehr noch verfließen müssen, vor mir aus. Seit gestern sind wir hier in Lindenhorst, und ich glaube mich in eine so gänzlich fremde Welt versetzt, daß ich ohne meine liebe Nora mich gar nicht zurechtfinden könnte. Ich zittere vor dem Augenblick, da sie mich hier allein lassen wird, denn bekannt und heimisch werde ich mich hier wohl niemals fühlen. Nie hätte ich geglaubt, daß das Leben unter gebildeten Menschen so ganz verschiedene Gestalten annehmen könne, aber hier erinnert mich nichts an unser schönes friedliches Leben zu Hause. Meine süße Mama, welche Seligkeit wird es sein, mit Dir in unserm traulichen Wohnzimmer, oder oben an meinem Schreibtischzu sitzen – ich träume davon im Wachen und Schlafen, wie von einem verlorenen Paradiese. Hier scheint niemand das Bedürfnis der Ruhe und Sammlung zu kennen; das saust und braust den ganzen Tag, daß mir zuweilen angst und bange wird. Bei Tisch sind wenigstens zwanzig Personen, und ich werde wohl niemals dahin kommen, sie alle zu kennen und zu unterscheiden. Bis jetzt sind mir nur wenige Gestalten aus dem großen Wirrsal klar geworden, Herr und Frau Klingemann, die mich sehr freundlich begrüßten, und ein junges Mädchen, Rose Grund , die seit dem Frühjahr hier ist, um sich nach schwerer Krankheit zu erholen. Sie hat für mein Erstaunen über die unbekannten Verhältnisse nur Gelächter und Spott, und ich fühle mich wenig zu ihr hingezogen.
Die Gegend scheint hier sehr hübsch zu sein, der große Garten bietet viele schattige und anmutige Partieen. Heute hatte ich mir ein reizendes Plätzchen aufgesucht und mich eben in ein Buch vertieft – da kam die ganze Knabenschar angetobt, und mit der Ruhe war es vorbei. Die Kinder scheinen mir bis jetzt noch unzählbar; ein Knabe erregt meine große Teilnahme, er ist gelähmt und kann sich nicht selbständig bewegen, aber in seinem Gesicht liegt so viel Intelligenz und dabei ein so melancholischer Zug, daß man sich zu ihm hingezogen fühlt. Da er unter den lebhaften Geschwistern sehr allein steht und an ihren lärmenden Spielen keinen Teil nehmen kann, möchte ich mich gern mit ihm befreunden.
Ich nehme mir vor, ein Tagebuch für Dich zu schreiben,geliebte Mama; wenn Nora fortgeht, wird der tägliche Verkehr mit Dir das einzige Mittel sein, um mich vor schmerzlichem Heimweh zu bewahren. Ich verspreche Dir, für alles Gute, was ich hier etwa finden sollte, offene Augen zu haben, aber dafür gestatte mir auch, Dir rückhaltlos alles zu berichten, wie es mir erscheint, ohne Vorurteil, aber auch ohne Beschönigung.
Schon mehrmals, während ich schreibe, ist Rose sehr ungeniert hereingekommen, um mich zu einem Spaziergang aufzufordern; ich habe gar keine Lust dazu, aber ich kann mich ihrer nicht erwehren, ohne unfreundlich zu sein. Wenn die Leute mich nur meinen eigenen Weg gehen ließen, ohne mir ihre lästige Freundlichkeit aufzudrängen!
Lebewohl, mein teure, einzige Mama! küsse unsere kleine süße Nora und denke mit Liebe und ein wenig Mitleid an Deine Erna.
Aus Ernas Tagebuch.
Lindenhulst, den 9. Juni.
Rose führte mich gestern abend auf den Schloßberg, der den alten Turm und manches ruinenhafte Gemäuer auf seiner Höhe trägt. Der große Garten ist ganz von einer alten Mauer umgeben, die teilweise zerfallen und zerbröckelt ist, an andern Stellen aber noch aufrecht steht und von dichtem Grün umrankt ist – lauter interessante Reste einer grauen Vergangenheit. Der Blick vom Schloßbergist wunderhübsch, man sieht verschiedene bewaldete Hügelgruppen, dazwischen tief eingeschnittene, grüne Thäler mit rauschenden Buchen und klappernden Mühlenrädern. Plötzlich, als ich ganz versunken in den schönen Anblick war, rief Rose: »Da ist er! sehen Sie nur, Erna, ist das nicht ein Reiter auf einem Schimmel, der dort die Chaussee heraufkommt?« Ich bestätigte es, und nun geriet sie in ein wahres Entzücken. »Wir müssen ihn begrüßen,« rief sie und ließ ihr Taschentuch im Winde wehen.
»Aber sagen Sie mir nur, wer der Herr ist, dessen Nähe Sie so beglückt,« bat ich.
»Es ist Herr v. Rothenburg, ein vornehmer, reicher junger Mann, der hier als Volontär in der Wirtschaft ist, um später die großen Güter seines Vaters zu übernehmen; er ist die interessanteste Person in der ganzen Umgegend, und alle Mädchen sind in ihn verliebt. Er ist aber auch unwiderstehlich mit seiner schlanken
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