Maedchenlose
Gestalt, seinem schönen Kopf und seiner hübschen Stimme, und das Leben hier im Hause hat einen ganz besonderen Reiz, wenn er anwesend ist. Sie werden auch von ihm entzückt sein, Erna.«
»Ich denke nicht daran,« sagte ich ganz entrüstet, »und ich finde es sehr unpassend, daß Sie einem fremden Herrn Grüße zuwinken; hoffentlich hat er uns nicht gesehen.«
»Thun Sie nur nicht so zimperlich,« erwiderte sie lachend; »in ein paar Tagen werden Sie ganz anders sprechen, falls Rothenburg Sie beachtet; manchmal ist er freilich sehr spröde.«
Ich konnte vor innerer Empörung kein Wort sagen, nur als sie mich aufforderte, auf dem kürzesten Wege nachdem Hof zurückzukehren, um »ganz zufällig« zu gleicher Zeit mit dem Reiter dort zu sein, lehnte ich es entschieden ab. Trotz alledem blieb sie in der besten Laune und sang und schwatzte so lustig, daß ich ihr nicht lange widerstehen konnte. Ob wohl in Rosens Seele jemals ein ernster Gedanke Platz findet? Ich glaube, sie hat vor Lachen und Scherzen keine Zeit dazu.
Als wir zu Hause ankamen, flüsterte sie mir zu: »Nun eilen sie nur, um sich zum Abendessen recht hübsch zu machen, der erste Eindruck ist oft der entscheidende«. Natürlich dachte ich nicht daran, ihr zu folgen, war aber wider Willen doch etwas gespannt auf den gerühmten Herrn. Er sah sehr müde aus, sprach kein Wort und gähnte nur verstohlen; nach dem Essen erschien er für einen Augenblick im Wohnzimmer, entschuldigte sich mit großer Ermüdung nach dem langen Ritt und verschwand. Der erste Eindruck seinerseits war kein besonders vorteilhafter, und es war jetzt an mir, Rose wegen ihres Helden auszulachen.
Abends erzählte ich Nora von Rosens Betragen auf dem Schlotzberg; sie fand es auch nicht mädchenhaft genug, bat mich aber, mich nicht zu schnell gegen sie einnehmen zu lassen. Ihr gutes, warmes Herz, ihre immer fröhliche Laune, ihr praktischer Sinn würden von den Damen des Hauses sehr gerühmt, sie besäße also manches, was mir fehle, und wir könnten uns gegenseitig ergänzen, da wir hier doch einmal aufeinander angewiesen seien. Noras Auffassung hat stets etwas Überzeugendes.
Den 11. Juni.
Allmählich fange ich an, mich besser zu orientieren, und um Dir ein deutliches Bild meiner Umgebung zu entwerfen, will ich Dir unsere ganze Tafelrunde vorführen.
Den Ehrenplatz an der Spitze nimmt die Mutter des Hausherrn ein, eine stattliche alte Dame von ernstem, etwas strengem Wesen; sie macht mir den Eindruck, als gehörte sie mit ihren Anschauungen und Gewohnheiten einer andern, längst vergangenen Zeit an, als blickte sie zuweilen mit Erstaunen, ja mit Mißbilligung auf das Treiben der jetzigen Generation. Ihre Enkel bezeugen ihr große Ehrfurcht, und es gilt für einen Vorzug, der Großmutter einen Dienst erweisen zu dürfen; aber noch nie habe ich gesehen, daß sich eines der Kinder an sie geschmiegt und ihr seinen kleinen Kummer oder seine Freuden anvertraut hätte, wie ich es stets bei Großmama Westheim thun durfte.
Ihr zur Rechten sitzt ihr Sohn, der Hausherr; er hat viel Ähnlichkeit mit seiner Mutter, und sein Auge nimmt zuweilen einen Herrscherblick an, den ich nicht auf mich gerichtet sehen möchte. Aber er kann auch sehr freundlich sein und so laut und herzlich über einen guten Witz lachen, wie ich es nie zuvor gehört habe. – Ihm folgt Herr Dr. Kron, der Hauslehrer, ein nicht mehr junger, jovialer Mann, der seinen Schülern das Leben gewiß nicht schwer macht. Er ist der einzige, der bei Tische ganz unbefangen spricht und bald den einen, bald den andern in die Unterhaltung zieht. Sein Nachbar ist Herr v. Rothenburg, der wirklich sehr gut aussieht, aber nicht immer besonders liebenswürdigzu sein scheint. Abwärts folgen nun junge Beamte, an die sich die vier Knaben anschließen; zwei davon sind Söhne des Hauses, die andern sind nur zur Teilnahme am Unterricht den Tag über hier und kehren am Nachmittag zu ihren Eltern zurück.
Dies ist die männliche Seite der Tafel; das vis-à-vis gehört dem schönen Geschlecht. Neben der alten Dame sitzen Nora, Rose und ich, es folgt Frau Klingemann, eine liebe, feine, blasse Frau, von der man nicht begreift, wie sie den riesigen Haushalt so ruhig und sicher leiten kann. Man sieht sie nie in Hast und Eile, immer hat sie ein freundliches Wort für jeden, der sich an sie wendet; selbst der steifen alten Dame begegnet sie stets mit einer sanften Zärtlichkeit. Neben ihr sitzt der arme kranke Bruno, der mit vierzehn Jahren kaum so groß
Weitere Kostenlose Bücher