Maedchenlose
eilte dem Hause zu, um die Morgenandacht nicht zu versäumen; aber alle meine Pulse flogen so sehr vor innerer Erregung, daß ich eine Zeitlang im schattigen Buchengange auf- und abgehen mußte, um mich zu beruhigen und niemand etwas merken zu lassen. – Dir dies alles mitzuteilen, meine geliebteMama, halte ich für kein Unrecht, es würde mir sonst auch das Herz abdrücken. O, wenn für meine Nora hieraus das Glück erblühte, das ich ihr so von Herzen wünsche, und ich hatte dazu mitgewirkt – wie glückselig würde mich das machen!
Den 4. Juli.
Jeden Morgen nach dem ersten Frühstück gebe ich Lieschen eine Stunde, sie lernt lesen, schreiben, rechnen, und zuletzt erzähle ich ihr zur Belohnung eine biblische Geschichte, wozu mir Frau Klingemann eine Bilderbibel gegeben hat. Manchmal thut die Kleine sehr komische Äußerungen. Als ich ihr das Bild des Paradieses zeigte, worauf Gott unter seinen Geschöpfen wandelt, sagte sie ernsthaft: »Ich habe den lieben Gott auch schon gesehen.«
»Wo denn, Lieschen?«
»Ich war einmal in der Kirche mit meinen Eltern, da stand er ganz oben und schrie so laut, daß sich alle Leute fürchteten, und manche fingen an zu weinen, ich konnte aber nichts verstehen.«
»Wie sah er denn aus?«
»Ganz schwarz von oben bis unten, nur unter dem Kinne hatte er einen kleinen weißen Bart.«
»Aber Lieschen, das war ja der Prediger; der liebe Gott wohnt im Himmel, den können wir nicht sehen.« Sie sah mich ungläubig an, und ich weiß nicht, ob ihre Vorstellung sich wirklich aufgeklärt hat. – Ein anderesmal erzählte ich ihr von Hagar in der Wüste und schilderte ihr die Freude der Mutter, als Gott ihr Gebet erhörte undWasser aus dem Felsen rauschen ließ. »Warf er auch gleich ein Blechtöpfchen herunter,« fragte sie teilnehmend, »damit Hagar von dem Wasser schöpfen konnte?«
Manchmal habe ich Mühe, ernsthaft zu bleiben.
Die Nachmittagsstunden mit Rose machen mir große Freude, sie hat erstaunliche Lücken in ihren Kenntnissen, aber einen wahren Feuereifer zum Lernen. Wir treiben Geschichte, Geographie, etwas Litteratur und Französisch, und die zwei Stunden sind immer im Umsehen verschwunden. Überhaupt fliegen die Tage in wunderbarer Eile dahin, vier Wochen bin ich schon hier, und Deine Rückkehr, meine geliebte Mama, kommt schnell näher. So unaussprechlich ich mich auf Dich freue, so wundervoll ich mir unser Zusammenleben ausmale, so ist mir doch das Leben hier erstaunlich lieb und anheimelnd geworden. Ich fühle mich ganz als Glied des Hauses und empfinde es froh und dankbar, daß ich auch von allen so betrachtet werde. Mein Gesichtskreis, der doch recht eng und beschränkt war, hat sich sehr erweitert, meine Begriffe von den Pflichten, die das Leben uns auferlegt, sind klarer geworden, meine Menschenkenntnis hat sich bedeutend vermehrt. Ich hoffe, Du sollst die guten Früchte dieses Aufenthalts an mir erkennen.
Den 7. Juli.
Heute nach der Andacht hielt mich Rose durch allerlei Anliegen in der Stube fest; als ich endlich auf die Veranda heraustrat, standen alle Kinder, auch die fremden Knaben, im Halbkreis und sangen mir entgegen: Heut' ist der Tag,an welchem du bei uns erschienen, wobei sie eine lange Guirlande um mich schlangen. Dann trat Mariechen vor und sprach folgende Verse:
An einem Sommertage, da kam zu uns aufs Land
Ein lieber Gast und führte ein Mägdlein an der Hand;
Das machte große Augen zu allem, was es sah,
Und manchmal wüßt' es selber nicht recht, wie ihm geschah.
Vor Schweinen hat's ein Grauen, lebendig oder tot,
Und gar beklommen blickt es, wenn eine Kuh ihm droht.
Es ist wie eine Blume so zart, so hold, so rein,
Und tief in unsre Herzen stahl es sich bald hinein.
Heut' ist es grad' ein Monat, seitdem es zu uns kam;
Ach, blieb' uns doch noch lange erspart der Abschiedsgram!
Wer sollte Lieschen lehren? wer machen Rose klug?
Und wer erzählt uns Märchen von so phantast'schem Flug?
Und alle Rothenburger, und alle Klingemanns,
Rosa und Tante Emma, der Oskar und der Hans,
Des Hauses Kron daneben, sie alle rufen hoch!
Hoch sollst du, Erna, leben! bleib' bei uns lange noch!!
Bei den letzten Worten fielen alle ein, und es entstand ein großes Jubelgeschrei; ich flog willenlos aus einem Arm in den andern, so daß ich wirklich nicht wußte, wie mir geschah, und ganz froh war, mich endlich neben Frau Klingemann auf der Bank zu finden. Ich schlang meine Arme um die liebe Frau und sagte zwischen Lachen und Weinen, daß ich so viel Freundlichkeit gar
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