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Maedchenmoerder Ein Liebesroman

Titel: Maedchenmoerder Ein Liebesroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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wie Sie die Stirn runzeln. Aber was macht der Säugling, der stundenlang geschrieen hat vor Durst? Er klammert sich an die nächstbeste Brust, die ihm hingehalten wird. Interessiert ihn dabei, ob diese Brust ausgerechnet jener Mutter gehört, die schuld daran ist, dass er überhaupt so lange schreien musste?
    Natürlich können Sie einwenden: Aber Julia, Sie sind doch kein Säugling mehr. Sondern ein erwachsener Mensch. Noch dazu einer, der vor wenigen Monaten das zweitbeste Abitur der ganzen Schule gemacht hat und deshalb für die Studienstiftung des Deutschen Volkes vorgeschlagen worden ist. Alles richtig. Aber was bedeuten solche »Leistungen«, wenn Ihr Peiniger, der ebenfalls kein Minderbemittelter, sondern im Gegenteil ein Raffinierter ist - wenn er in den Tagen und Stunden zuvor alles unternommen hat, um Sie wieder zu dem Säugling zu machen, der Sie vor neunzehn Jahren schon einmal gewesen sind? Ihr Körper, Ihre Seele erinnern sich . Egal, wie viele Einsen Sie in der Schule geschrieben haben, egal, was Sie über Differentialrechnung, die Gedichte Gottfried Benns und die Punischen Kriege wissen, egal, wie »hochbegabt« Sie sind - in jedem von Ihnen steckt der verängstigte Säugling.
    (Damit jetzt keine neuen Missverständnisse aufkommen: Ich will nicht andeuten, dass meine Mutter mich als Säugling vernachlässigt hätte. Die Medien haben gern von »Spannungen« zwischen uns berichtet. Das sind nichts als Übertreibungen. Meine Mutter und ich, wir verstehen uns so gut, wie eine Tochter und eine Mutter sich verstehen können.)
    Von Brecht stammt der Satz, dass erst das Fressen kommt und dann die Moral. Ich weiß, dass er abgedroschen ist. Trotzdem steckt in ihm die ganze Wahrheit. Setzen Sie statt »Fressen« nur »Schlafen, Essen,Trinken, Keine-Schmerzen-zugefügt-Bekommen« ein, und statt »Moral« nehmen Sie »Selbstachtung, Stolz, Anstand, Menschlichkeit« - und schon klingt es nicht mehr so dumm.
     
     
    Die einzige intelligente Journalistin, von der ich jemals interviewt worden bin, hat mich gefragt, ob sich das, was mein Peiniger mit mir gemacht hat, nicht mit einem Jo-Jo vergleichen ließe. Mir selbst wäre dieses Bild nicht in den Sinn gekommen, aber jetzt, wo ich noch einmal darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass es ziemlich treffend ist. Ich war ein Spielzeug in den Händen dieses Unmenschen. Und zwar tatsächlich eins, das er nach Belieben von sich fortschleuderte und wieder heranschnellen ließ. (Vielleicht hat mir der Vergleich beim Interview nicht eingeleuchtet, weil ich in meiner Kindheit nie Jo-Jo gespielt habe.)
    Nachdem er mich also ganz weit von sich fortgeschleudert hatte - so weit, dass ich sicher gewesen war, sterben zu müssen -, ging er nun auf »Rückholkurs«. Er gab mir nicht nur zu trinken, sondern er löste meine Handfesseln, damit ich essen konnte. Allerdings ging dies nicht so leicht, wie er es sich vorgestellt hatte. Meine Hände waren dermaßen taub, dass ich unmöglich eine Gabel, geschweige denn einen Teller halten konnte. Die Folge war, dass mir alles entglitt und die Spaghetti samt Ketchup - denn das war es, was er »gekocht« hatte - zur Hälfte auf meinen Schoß, zur Hälfte auf die Matratze rutschten. (Sehen konnte ich allerdings immer noch nichts. Um es mit seiner »Güte« nicht zu übertreiben, hatte er mir die Binde vor den Augen gelassen.) Er fuhr mich an, dass ich kein solches Theater um meine Hände machen solle. Er selbst sei mit gebrochenem Handgelenk irgendeine Rundfahrt zu Ende gefahren. Ich beschwor ihn, sich nicht aufzuregen, ich bräuchte keinen Teller und auch keine Gabel. Mit zitternden Fingern tastete ich nach den lauwarmen Nudeln, die ich auf meinen nackten Oberschenkeln spürte, und stopfte alles, was ich zu fassen bekam, in den Mund. Dies wiederum brachte meinen Peiniger zum Lachen. Er meinte, noch nie im Leben habe er jemanden so fressen sehen. Kein Wunder, dass die arme Madame Dutroux Angst gehabt habe vor den wilden Tieren in ihrem Keller. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, die glitschigen Nudeln zwischen meine Finger zu bekommen - es war, als hätte ich Skihandschuhe an -, als dass ich die Energie besessen hätte, ihm zu widersprechen.
    Er meinte, dass sich unser Verhältnis doch deutlich gebessert habe: Mittlerweile würde ich ihm ja wirklich blind aus der Hand fressen. Zu seiner Zeit habe man die Mädchen noch erschrecken können, indem man sie bei Schulfestgeisterbahnen in eine Schüssel kalte Spaghetti habe hineingreifen lassen.

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