Maedchenmoerder Ein Liebesroman
würde schon sehen, bestimmt sei alles ganz harmlos, und wenn nicht, dann müsse ich mir vor Augen halten, dass Tinka eben nicht mehr die Jüngste sei und doch ein schönes Leben gehabt habe.
Wie sie sich wohl fühlen würde, wenn sie einen Tumor hätte, und ich würde über sie sagen, dass sie »eben nicht mehr die Jüngste« sei und »doch ein schönes Leben« gehabt habe... Wobei Letzteres in ihrem Fall gelogen wäre, denn wenn sie eines Tages einen Tumor kriegen sollte, wäre dies nichts anderes als das angemessene Ende eines völlig beschissenen Lebens.
Ich glaube, ich muss sie noch einmal anrufen und diesen Punkt klarstellen …
Lieber David!
So. Jetzt geht es mir besser. Und Tinka benimmt sich wie ein Engel. Fast habe ich das Gefühl, sie würde versuchen, mich zu trösten. Mist. Jetzt muss ich schon wieder heulen.
An dem Morgen, an dem wir in der Sierra Nevada aufgebrochen sind, habe ich gleich gemerkt, dass es Dir nicht gut geht. Und anders als in Gerona habe ich auch geahnt, wieso. Seit den Pyrenäen wusste ich ja, was es bedeutete, wenn überall auf dem Asphalt weiße Namen auftauchen. Als ich später in der Zeitung das Bild dieses weißblonden Radfahrers entdeckt habe, der sein goldenes Trikot küsst, und darunter das Wort »Granada« gelesen habe, vermutete ich zum ersten Mal, dass es Dir wehtat, nicht mit den Männern in ihren goldenen, orangen und hellblauen Trikots unterwegs zu sein, sondern mit mir. Und ich erkannte, dass ich nur eine Chance hatte, Dich aufzumuntern: indem ich Dich ungestört jagen ließ.
Erinnerst Du Dich an die rothaarige Frau, die an dieser Autobahnraststätte irgendwo zwischen Granada und Málaga aus dem Berliner Kombi gestiegen ist und die beim Frühstück zwei Tische weiter gesessen, die tropfenden Schinken über dem Tresen angestarrt und in ihr kleines schwarzes Notizbuch gekritzelt hat? (Wirklich schade, dass Du keine Lust auf das Spiel hattest, das ich früher so gern mit meinem Vater gespielt habe. Zu gern hätte ich mit Dir darüber spekuliert, was sie hier trieb. Ob sie die Reise ursprünglich mit ihrem Freund geplant hatte, dann aber allein gefahren war, weil der sie im letzten Moment sitzen gelassen hatte. Oder ob sie eine Reiseschriftstellerin war, die ein Buch über andalusische Spezialitäten schrieb...)
Natürlich wäre sie ein bisschen zu alt für Dich gewesen. (Trotzdem bin ich sicher, dass Du mit ihr mehr Spaß gehabt hättest als mit dem zerrupften Vogel, den Du in diesem Yachthafen an Land gezogen hast.) Und als ich von den Klos zurückkam und Du verschwunden warst, habe ich auch gedacht, Du hättest Dein Desinteresse nur vorgetäuscht und sie Dir in Wahrheit doch geschnappt, während ich mir in diesem ekligen Waschbecken die Haare gewaschen hatte. Ich muss wie eine Idiotin ausgesehen haben, als ich mit meinen tropfenden Haaren auf den Parkplatz hinausgerannt bin und »David! DAVID! « geschrieen habe. Und wie panisch bin ich erst geworden, als ich feststellte, dass der Berliner Kombi nicht mehr unter dem Sonnendach stand und sich auch in unserem VW-Bus nichts regte, obwohl ich mit beiden Fäusten dagegengetrommelt habe.
Umso größer ist meine Erleichterung gewesen, als ich Dich endlich vor dem Blechcontainer am Eingang des Parkplatzes entdeckte. Aber als mir dämmerte, dass Du dort standest, um Dich über Fähren nach Marokko zu informieren, ist mir der nächste Schrecken in die Glieder geschossen.
Hast Du wirklich mit dem Gedanken gespielt, nach Afrika zu gehen? Hättest Du riskiert, an der Grenze verhaftet zu werden? Wärst Du wirklich ohne mich gefahren? (Was frage ich, inzwischen weiß ich es ja...)
Im Nachhinein muss ich Dir also dankbar sein, dass Du mir wenigstens noch drei, vier gemeinsame Tage geschenkt hast.
Selbst wenn ich Deinen Lebensschmerz heute begreife, verstehe ich nicht, was Dir an jenem Vormittag durch den Kopf gegangen ist. Die Tage zuvor hatten wir uns einen Spaß daraus gemacht, jedes Mal, wenn wir unter einer der Anzeigetafeln hindurchkamen, auf denen das spanische Verkehrsministerium die aktuelle Zahl der Toten in diesem Jahr verkündete, zu schauen, ob die Zahl gestiegen war. Als wir uns kurz vor Málaga wieder einer solchen Tafel näherten, und ich mit dramatischer Filmstimme vorlas: » Since January 1st, 1499 killed «, hast Du nicht wie sonst geantwortet: » It wasn’t me «, sondern mich angefaucht, was ich eigentlich von Dir wolle.
Was ICH von DIR wollte?
Frag den Schatten,
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