Maengelexemplar
Unverschämtheit wäre. Das wissen wir alle vier. Ha! Ich bin grade wichtiger!
Es ist inzwischen früher Abend, und Nelson und ich gurken, bis die Tablette endlich wirkt, noch ein wenig durch den Notaufnahme-Park. Ich rufe Anette in ihrer Praxis an und hinterlasse eine nasse Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Dann frage ich Nelson, ob er für mich Philipp anrufen kann. Ich habe das Gefühl, dass Philipp grade der einzige Mensch ist, der mich wieder heil machen und beruhigen kann. Nelson hält das eigentlich für keine gute Idee, aber die Umstände sind besonders, finden wir. Also ruft Nelson doch an, während sich bei mir Anette zurückmeldet. Schluchzend erzähle ich, was passiert ist, und sie versucht, mich zu beruhigen. »Wenn du willst, kannst du jetzt noch vorbeikommen, Karo.« Ich merke aber, dass die Tablette langsam wirkt, und vereinbare mit Anette einen Termin für den nächsten Morgen.
Ich lege auf und latsche mit klitzekleinen Omi-Schritten durch die Grünanlage. Ich muss nicht mehr weinen. Vor einem Käfig bleibe ich stehen und tue so, als würde ich die darin eingepferchten Ziervögel betrachten. In Wirklichkeit beobachte ich aber Nelson, der seriös gestikulierend durch den Park telefoniert. Dann legt er auf und kommt mit einem nicht zu durchschauenden Gesicht zurück.
»Pisser!«, sagt er, und ich weiß Bescheid. »Er hält es für keine gute Idee, dich jetzt zu sehen.« Ich bin verblüfft. »Hast du ihm denn nicht gesagt, dass wir in der Notaufnahme sind? Dass ich nicht einfach nur traurig spiele, sondern dass alles richtig schlimm ist?«, frage ich. Ich habe große Angst, dass der blöde Philipp glaubt, dass ich nur simuliere. »Natürlich habe ich das. Ich habe ihn auch wissen lassen, dass ich es wichtig fände, wenn er jetzt für dich da wäre. Er sagt, er hätte zu viel Angst, etwas falsch zu machen.« Meine Güte, was für ein beschissener Versager, mein Exfreund! Selbst in dieser Situation denkt er nur an sich. Ich heule mich durch die Notaufnahmen dieser Stadt, verstecke Scheren vor mir selbst, und alles, woran Philipp denken kann, ist, dass er was falsch machen könnte. Alles, was ich will, ist in seinen Armen sein. Nur heute, nur jetzt. Er soll mich wieder ganz machen.
Nelson fragt, ob es inzwischen ein bisschen besser geht, und nimmt mich leicht am Arm, um mich zum Auto zu führen. Ich bin Knete in seinen Händen. Mir ist alles egal jetzt. Ich bin erschöpft.
Wir fahren zurück ins Stadtinnere und parken vor Nelsons Wohnung. »Du schläfst heute bei uns!«, verkündet er väterlich resolut. Ah, deshalb die Zahnbürste. »Ich will aber keine weiteren Umstände machen«, flüstere ich wie im Film, meine es aber genau so. »Hör endlich auf mit dem Scheiß, Karo! Du machst keine Umstände. Katrin weiß schon Bescheid, du bist willkommen!«
Und wie willkommen ich bin: Katrin hat extra für uns Abendbrot gemacht und für sich selbst das Gästebett bezogen. Ich soll mit Nelson im Pärchenbett schlafen, damit ich nachts keine Angst kriege. Meine Augen werden schon wieder ganz feucht, diesmal vor Rührung.
Nachdem wir Stulle und Kirschen und Tee geabendbrotet haben, sitzen Nelson und ich auf dem Bett und packen endlich seine Geschenke aus. Er freut sich sehr über all meine Quatschgeschenke, und ich entdecke, als ich mich ausziehe, dass mir heute ein Vogel aufs Shirt gekackt hat. Darüber lachen wir endlich, ein bisschen hysterisch.
Der nächste Morgen ist ein typischer
Morgen danach
. Nach der Party, nach dem Sturm. Die ganze Aufregung ist dumpfer Erschöpfung mit Mundgeruch gewichen. Ich habe tief und ausreichend geschlafen, Katrin macht Frühstück, und ich überlege, ob ich wohl Mama zu ihr sagen darf. Vermutlich nicht, also frage ich erst gar nicht, sondern esse, wie Magersüchtige es tun: gar nicht. Ich halte immer nur Lebensmittel in die Nähe meines Mundes, räume sie auf dem Teller von rechts nach links und andersrum und nippe an meinem Kakao. Ich kann nicht essen. Mir fehlen die Kraft und der Appetit. Mir fallen dauernd die Augen zu. Ich fühle mich taub. Aber auf eine gute Art taub. Wenn ich schon nicht mehr in meinem eigenen Leben mitspielen darf, sollen gefälligst die anderen auch entscheiden, was jetzt passiert, denn wenn es nach mir gehen würde, läge ich wieder im Bett. Für immer.
Also entscheidet Nelson: »In einer Stunde ist der Termin mit deiner Therapeutin«, erinnert er mich. »Ich fahr dich hin. Geh mal noch schnell duschen. Du riechst traurig.« Ich
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