Maengelexemplar
Angst wäre weg. Und die Traurigkeit.
Ich rufe noch einmal Nelson an. Diesmal weine ich: »Nelson, kannst du vielleicht schon ein bisschen früher kommen? Irgendwas stimmt ganz und gar nicht.« Bevor ich erklären kann, was mein Problem ist, sagt Nelson mit seiner beruhigenden Erwachsenenstimme: »Ja. Ich komme. Ich gehe jetzt zum Auto.« Danke, möchte ich sagen. Das ist nett. Bis gleich. Aber Nelson lässt mich nicht. Nelson hört nicht auf, mit mir zu reden. »Ich gehe jetzt aus dem Sender und zu meinem Parkplatz. Das sind ungefähr fünfzig Meter. Jetzt steige ich ein und schließe die Tür. Ich lasse das Auto an. Ich bin gleich bei dir. Versuch, dich zu beruhigen!« Ich schluchze laut. Rotz läuft mir aus allen Poren, ich kann nichts sagen, ich tigere durch die Wohnung, das Telefon am Ohr, mein Körper ein einziges Minenfeld. Nelson sagt: »Ich bin jetzt schon an diesem fürchterlichen Thai vorbeigefahren, bei dem du neulich die Kellnerin beschimpft hast, weil sie dir das falsche Essen gebracht hat, weißt du noch?« »Ja«, heule ich, »ich hatte extra gesagt, dass ich kein Geflügel mag, und sie bringt ausgerechnet Curryhuhn.« Nelsons Plan geht auf. Wir merken es beide. Er kann mich nicht austricksen, er versucht es nicht erst. Er leistet einfach Erste Hilfe auf seine Art.
»Ich fahr nur noch am Proll-Tätowierer vorbei, und dann biege ich schon in deine Straße, gleich bin ich da, Puppe, keine Sorge, gleich ist alles wieder gut!«
»Bis gleich«, flüstere ich und lege auf. Es klingelt, ich betätige den Türöffner und stapele Nelsons Geschenke auf meinem Arm. Hoffentlich findet er die Verpackung nicht total schlimm. Ich öffne meine Wohnungstür und probe, immer noch weinend, mein »Happy Birthday«-Gesicht. Schließlich ging es jetzt wirklich lang genug um mich, ich schäme mich ein wenig, Nelson sollte doch die Hauptperson sein heute!
Er biegt um die Ecke, sieht besorgt aus, und ich strecke ihm seine Geschenke hin und brabble irgendwas von Geburtstag und Geschenkpapier und Saugnapfhandtuchhaltern. Es würde mich nicht wundern, wenn ich dabei irre gekichert hätte.
Nelson sagt nichts, drängt mich zurück in den Hafen meiner Wohnung und nimmt mich in den Arm.
Und dann gehe ich endlich richtig kaputt.
»Wir fahren jetzt in die Notaufnahme.«
Nelson und ich liegen auf meinem Sofa, besser gesagt: Nelson sitzt, und ich liege auf seinem Schoß und rotze seine Hose voll. »Entschuldige, jetzt sieht es aus, als hättest du einen Samenerguss auf deiner Hose gehabt«, schluchze ich als Antwort.
»Karo, zieh dich an, wir fahren zum Krankenhaus.« Weinend stolpere ich ins Schlafzimmer und ziehe mir Schuhe an, Nelson packt in der Zwischenzeit meine Zahnbürste ein.
Im Auto weine ich weiter. Ich höre einfach nicht mehr auf. Es läuft von ganz allein und nebenbei. Wie Fahrstuhlmusik. Die Autofahrt macht mich ruhiger, aber auch einsam. Mein nasses, selbstreinigendes Gesicht lehnt am Fenster und schaut raus in die neue alte Welt. Ich bin nicht mehr Teil davon. Ich sitze irgendwo anders. Ich habe mich verirrt und finde nicht mehr raus. Aus mir. Ich bin in einem dunklen Raum, in dem es keine Türen, nur ein Fenster zu den anderen gibt. Ich kann sie sehen, aber mitspielen darf ich nicht mehr. Ich muss jetzt in der Ecke stehen.
Ich versuche, logisch zu erfassen, was mit mir geschieht. Versuche, diese plötzliche Angst vor dem Tod zu verstehen. Ich habe zu keinem Zeitpunkt aktiv an Selbstmord gedacht. Eher über Bande. Diese Schere hat mir wirklich Angst gemacht. Die verlockende Erleichterung. Schlimmer Schmerz ändert schon irgendwie den Verwendungszweck einer Schere. Und dieser Gedanke macht mir eine Scheißangst.
Wir kommen in der Notaufnahme an, ohne zu wissen, was wir uns von ihr eigentlich versprechen. Aber wir brauchen Hilfe mit mir. Vielleicht eine Beruhigungsspritze. Ich jedenfalls wäre großer Fan davon. Während Nelson einer der hektisch umherrennenden Schwestern das Problem erklärt, steht das Häufchen Ich einfach rum und weint mal laut und mal leiser. Die Krankenschwester fragt unüberhörbar und auf mich zeigend: »Lacht die oder weint die?« Fotze!, denke ich. Was glaubst du denn? Und selbst wenn ich lachen würde. Wäre das unter diesen Umständen nicht genauso besorgniserregend?
Wir sollen in die psychologische Notaufnahme fahren. Vermutlich blute ich nicht genug. Hier wird einem nur geholfen, wenn man sich mit der Kreissäge um ein paar Zentimeter verschätzt hat.
Die psychologische
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