Maengelexemplar
Gesicht. Ich umarme mich sogar. So wie man das früher in der Grundschule gemacht hat und irre lustig fand: sodass es von hinten aussieht, als wären es nicht die eigenen Arme. Ich tue das, weil ich nicht weiß, was ich sonst noch machen soll. Und eine schöne Selbstumarmung scheint mir doch eine sehr eindeutige Form von Zu-sich-selbstlieb-Sein zu sein.
Ich möchte Erfolge. Ich möchte bald wieder im normalen Leben mitspielen dürfen. Wie die anderen Kinder sein. Mama und ich gehen in einen Esoterikladen, in dem es Steine und Buddhas und Bücher über Mondphasen und Räucherstäbchen und anderen Hippie-Fetischkram gibt. Ich glaube an diese Dinge auf die gleiche Art, wie ich an Horoskope glaube: eigentlich nicht. Aber wenn’s dann doch mal passt: warum nicht?
Und jetzt kann ich alle Hilfe gebrauchen, die ich kriegen kann. Mamas Bergkristallring ist erst der Anfang. Ich kaufe den halben Laden: einen weiteren Bergkristall zum Umhängen, eine Schutzengelstatue aus Sandstein, zwei grüne Steine für Ausgeglichenheit (einen fürs Portemonnaie und einen fürs Auto) und eine CD »Autogenes Training«. Das wurde mir von Mama, Frau Dr. Kleve und von Anette empfohlen. Dann muss es ja gut für mich sein. Viele Köche verderben meinen Brei nicht! Es ist gar nicht so einfach, sich für eine von etwa zwanzig CDs zu entscheiden. Mama rät: »Auf die Stimme des Sprechers kommt es an.« Also hören wir in ein paar CDs rein. Ich würde mir ja die Synchronstimme von Al Pacino wünschen, aber der Laden hat nur eine von einem Mann besprochene CD , und der klingt wie der Moderator vom Supermarktradio. Sonst ausschließlich Frauen. Agent Dana Scully fände ich ganz gut. Oder Jodie Foster. Die könnten mir überzeugend befehlen, die Augen zu schließen und mich zu entspannen. Oder was immer einem bei autogenem Training befohlen wird.
Generell fällt es mir eher schwer, mich zu entspannen. Während Massagen bin ich zum Beispiel völlig unentspannt. Ich versuche so angestrengt, entspannt zu sein, dass ich mich einfach nicht entspannen kann. In wohlig warmen Schaumbädern kann ich nur etwa zehn Minuten lang so tun, als würde ich
den Alltag draußen lassen.
Dann werde ich hibbelig und muss wieder raus. Ich fahre auch lieber drei Stunden lang mit dem Auto über diverse Dörfer zum Ziel, als zehn Minuten auf der Autobahn im Stau zu stehen. Ich täusche lieber einen Orgasmus vor, als mich zu langweilen, während ein freundlicher Herr sich wirklich Mühe gibt. Ich muss immer in Bewegung bleiben.
Ich kaufe »Autogenes Training« von Susanne Hühn, die noch am wenigsten nach Nagelstudioangestellter klingt. Wie ein neues Kleid ziehe ich mir die neue CD sofort an, sobald ich wieder in Mamas Schlafzimmer bin. Ich lege mich aufs Bett, dämpfe das Licht und lege mir meinen Laptop, auf dem ich alle meine CDs höre, auf den Bauch. Das ist auch schön warm. Susanne Hühn hat ordentlich Hall auf der Stimme. Entweder hat sie den Spaß in einer Turnhalle aufgenommen, oder das muss so sein. Damit sich der Hörer vorstellen kann, dass Susanne ziemlich dicke ist mit Engeln oder Gott oder sich selbst. Dazu kleckern atmosphärische Klänge aus meinem Computer. So nennt man das nämlich, wenn es irgendwie nach Wal und Mönchschor klingt. Susanne hat außerdem einen Sprachfehler. Sie spricht ein sehr scharfes S, was durch den Hall verstärkt wird und mich schon während der ersten zwei Sätze wahnsinnig macht. Aber deswegen höre ich ja der Susanne zu. Damit ich nicht so schnell wahnsinnig werde.
»Beim autogenen Training geben Sie sich selbst Ihre Anweisungen!«, ssssst Susanne.
Das klingt doch schon mal top. Das kann ich, darin bin ich ssssehr gut. Also erster heimlicher Versuch:
Entspann dich, Karo! Sofort! Und bei der Gelegenheit wirste bitte auch schnell wieder gesund im Kopp, ja?
Haha, schon klar, so läuft das nicht. Aber es ist eher langweilig, Susanne zuzuhören. Und wir sind erst bei der Einleitung. Die ganze CD ist in zwölf Titel unterteilt:
01.
Einleitung
2:35
02.
Entspannung
2:18
03.
Ruhe und Schwere
4:35
04.
Wärme
6:04
05.
Herz
6:10
06.
Atem
6:44
07.
Sonnengeflecht
7:35
08.
Stirn
8:26
09.
Nacken
6:03
10.
Mut
5:06
11.
Schmerzfrei
5:10
12.
Zum Einschlafen
5:31
Eine Stunde, sechs Minuten und sechsundfünfzig Sekunden Entspannung. Ich beschließe, »Sonnengeflecht« und »Stirn« sofort zu löschen. Fast siebzehn Minuten gespart. »Zum Einschlafen« und »Schmerzfrei« werde ich auch nicht brauchen, also weg damit. Weitere zehn Minuten im
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