Maengelexemplar
Papierkorb meines Computers. Auf die Einleitung kann ich auch verzichten, habe ich ja schon zur Hälfte gehört. Den Rest will ich erst mal testen, beschließe aber heimlich, »Herz« auch zum Teufel zu jagen. Voraussichtlich geht es da nämlich nicht um
mein
Herz, sondern nur um
das
Herz.
Und wenn ich schon am Computer sitze, beziehungsweise unter ihm liege, kann ich auch schnell nochmal im Internet nachsehen, was autogenes Training eigentlich bitteschön genau sein soll. Wikipedia schlaumeiert: »Das autogene Training ist eine auf Autosuggestion basierende Entspannungstechnik und eine weitverbreitete und anerkannte Methode, um Stress und psychosomatische Störungen zu behandeln.« Soso.
Noch eine schnelle Runde Solitär am Computer, und dann entspanne ich mich weiter. Und eine Zigarette rauchen noch. Die sind aber bei Mama im Wohnzimmer.
»Und? Was macht dein autonomes Training?«, fragt Mama grinsend. Mist, den Witz hätte ich gern zuerst gemacht.
»Naja, Susanne Hühn klingt ein bisschen wie eine Jeansverkäuferin in der Royal Albert Hall, aber ich denke, wir könnten Freundinnen werden. Wenn sie nur ein wenig schneller sprechen würde.«
Mama sagt nix und grinst weiter. Sie kennt ihr ungeduldiges Kind. Wir rauchen zusammen. Lieber zwei Zigaretten als eine, schließlich wird während der nächsten einunddreißig Minuten (ohne »Herz«) Rauchen ungern gesehen werden. Ich erfinde noch ein paar halbgare Gesprächsthemen, aber weder ich noch Mama noch Susanne sind doof, und deshalb scheuchen wir drei mich nach der fünften Zigarette zurück ins Schlafzimmer zum Entspannen unter Aufsicht.
Track 2, »Entspannung«, beginnt mit Windspiel-Gebimmel und Panflöte. Vierundvierzig Sekunden lang. Na, das werde ich beim nächsten Mal vorspulen. Schließlich sagt Susanne Hühn: »Du setzt oder legst dich bequem hin.« Plötzlich duzt sie mich. Bei der Einleitung waren wir noch beim Sie. Aber gut. Hinsetzen oder legen. Bequem. Hab ich doch schon längst. Als ob irgendwer am Anfang einer solchen CD tatsächlich noch total angestrengt irgendwo rumstehen würde, um erst mal abzuwarten, was man machen soll.
»Du erlaubst dir, zur Ruhe zu kommen. Es gibt nichts mehr zu tun ... Du darfst dir vorstellen, alles was dich jetzt noch belastet, in ein kleines Päckchen zu packen und vor die Tür zu stellen.«
Kleines
Päckchen. Ich zeig dir mal mein Päckchen, Susanne! So schnell krieg ich das nicht verpackt.
»Du darfst der Außenwelt erlauben, sich nun eine Weile ohne dich weiterzudrehen.«
Na, da war ich aber wieder schneller, Susanne. Die Welt dreht sich schon seit fast zwei Wochen ohne mich!
»Du richtest deine Aufmerksamkeit nun nach innen. Auf deine Innenwelt. Es ist so wichtig für dich, in deine eigenen Tiefen zu sinken ... Hier tief in dir findest du die Kraft, mit der du deinen Alltag meisterst, du begegnest deiner eigenen Leichtigkeit, deiner Stille und deiner Selbstheilungskraft.«
Der zweite Track ist vorbei. Wenn Susanne mir die ganze nächste halbe Stunde lang erzählt, was ich alles darf und wem ich in mir begegne, drehe ich durch.
Track 3, »Ruhe und Schwere«. Gleiches Windspiel und gleiche Panflöte. Ich spule bis Sekunde vierundvierzig. Mist, zu weit. Susanne spricht diesmal schon bei Sekunde achtunddreißig. Sie sagt: »Ich bin vollkommen ruhig und gelassen.« Na, das ist doch sehr schön für Susanne. Aber sollte
ich
nicht vollkommen ruhig und gelassen sein? Oder zumindest werden?
»Tiefe Ruhe durchzieht meinen ganzen Körper ... Meine Arme sind ganz schwer.«
Das ist ja ein Ding! »Mama! Susannes Arme sind ganz schwer!«, brülle ich durch zwei geschlossene Türen ins Wohnzimmer. Ich höre Mama seufzen. Das Kind spielt wieder mit dem Essen. Ist ja gut. Ich konzentriere mich jetzt wirklich.
»Meine Arme sind ganz schwer«, wiederholt Susanne geduldig. »Ich bin vollkommen ruhig und gelassen, Arme ganz schwer. Ganz schwer.«
Augenscheinlich beruht das Ganze auf dem Prinzip der Wiederholung. Und Susanne sagt jetzt zwar
ich
, meint aber
du
beziehungsweise
Sie.
Der Hörer soll die Ansprache im Kopf nicht mehr übersetzen müssen, sondern direkt losfühlen und losentspannen. Also bin
ich
wohl ganz entspannt und habe schwere Arme.
»Mama!«, brülle ich. »Ich habe mich geirrt.
Ich
bin ganz entspannt und habe schwere Arme!«
Ich höre Mama kichern. Gut.
Susanne wiederholt sehr oft, dass wir ganz ruhig und gelassen sind und dass unsere Arme ganz schwer sind. Bestimmt zehnmal. Das ist so öde, dass ich
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