Maengelexemplar
fangen an, mich zu nerven. Es ist wie Zauberwürfel spielen ohne Aussicht auf wenigstens eine einfarbige Würfelseite.
Also beenden David und ich sowohl Essen als auch Gespräch, und ich verkünde wieder ein nichtssagendes »So!« Die Erwartung zittert in mir. Sie weiß, dass sie nur bis zum Ende des aktuellen Events Essen reichen darf, aber sie tänzelt wie eine Ballerina auf Entzug auf der Grenze zum Nächstmöglichen. Aber da spiele ich nicht mit. Ich lächele treuherzig und sage nichts.
»Lust auf eine DVD bei mir?«
Ha!
»O.k.«, sage ich so freundlich und gleichgültig wie möglich. Ich spiele doofe Mädchenspielchen.
Wir halten wieder Hände auf der Straße, küssen in der Videothek, kaufen Eis und benehmen uns auch sonst wie ein Pärchen.
In Davids Küche treffen wir auf einen Mitbewohner. Wir teilen Eis zu dritt und spinnen rum.
»Und? Was macht ihr zwei noch?«, fragt der Mitbewohner.
»Wir werden wohl ficken«, sage ich. »Keine Gefühle, wir ficken nur. Denn David verliebt sich ja nicht.«
Der Mitbewohner lacht und blinzelt zwischen David und mir hin und her und sagt: »Nein, David verliebt sich nicht.«
Am nächsten Morgen ist endgültig mal Pause. Selbst wenn David einen neuen Programmpunkt vorschlagen sollte, ich muss jetzt mal weg hier. Mich sammeln, Kleidung wechseln, meinen Freundinnen von David erzählen. Ich steige aus dem Bett, um mal die Erste zu sein, die den Wärmeaustausch unterbricht, und ziehe mich an.
»Ich geh mal«, sage ich überflüssigerweise.
»Alles klar«, sagt David, auch überflüssigerweise.
Draußen brüllt mir die freundliche Herbstsonne überdreht ins Gesicht. Ich fühle mich wie in einer Werbung für cholesterinarme Margarine: wach und lebendig und kerngesund. Ich muss jemandem erzählen. Von mir und von David und vom Sex und vom Nicht-Verlieben. Ich rufe Mama an, sie freut sich. Ich rufe Nelson an, der freut sich auch, aber verhaltener. Nelson ist eben Mann. Ich brauche jetzt Frau. Ich rufe Anna an.
Anna ist meine älteste Freundin. Wir sind schon zusammen zur Schule gegangen, haben das Abitur im selben Jahr gemacht und waren sogar mal sechs Monate gemeinsam in Barcelona. Zur Selbstfindung. Wir haben uns aber nicht gefunden, also sind wir wieder nach Hause geflogen. In den letzten Jahren sahen wir uns nur selten, aber unsere Herzen haben dauernd miteinander Kontakt. Anna versucht immer sehr zielstrebig, rauszufinden, wie es mir geht. Sie lässt sich nicht verwirren oder austricksen.
Seit ein paar Wochen sehen wir uns wieder regelmäßig. Denn auch Anna schleppt ein Paket mit sich rum. Sie konnte es mir erst zeigen und ich es erst öffnen, seit ich zur Therapie gehe. Vor ein paar Monaten erzählte ich ihr, wie schlecht es mir geht, und plötzlich hatte Anna Tränchen in den Augen. Ich weiß, dass sie von einem bestimmten Ereignis in ihrer Jugend ziemlich traumatisiert ist. Wir hatten ein paar Mal darüber gesprochen, aber man gräbt ja nicht so tief, wenn das Gegenüber lächelt. So hatte ich völlig unterschätzt, welchen Einfluss ihre Vergangenheit auf ihre Gegenwart hat.
Und plötzlich erzählte Anna, dass es ihr seit Monaten richtig beschissen geht. Dass sie regelmäßig ohnmächtig wird. Einfach so, mitten auf der Straße schlimmstenfalls. Ein bestimmter Geruch oder ein Mensch, der ihrer Vergangenheit ähnelt, knipst sie einfach aus. Sie geht kaum noch vor die Tür, trinkt Alkohol, um schlafen zu können, und redet mit niemandem darüber.
Anna ging es schlechter als mir, also übernahm ich instinktiv Mamas Part und erklärte ihr, was ich gelernt hatte. Dass man nicht einfach verrückt ist, sondern krank. Dass man sich Hilfe holen darf, sogar soll. Dass man aus diesem dunklen Raum nicht allein rauskommen kann und es auch niemand von einem erwartet. Und vor allem: dass man wieder ganz werden kann. Irgendwann.
Anna wirkte erleichtert. Froh, dass sich jemand kümmerte, vor allem aber dass jemand zuhörte. Von anderen Freundinnen, die sie viel häufiger sah, hatte sie sich entfernt. Anna hatte nicht den Nerv, dem unbeschwerten Leben ihrer Mädels zuzusehen, und die Mädchen fanden Anna anstrengend, weil es ihr immer schlecht ging. Das machte mich wütend. Andererseits schämte ich mich, weil ich auch nicht mitbekommen hatte, wie schlecht es Anna wirklich ging.
So ist er, der ewige Teufelskreis. Wir achten alle nicht genug aufeinander. Wir lassen uns zu schnell von abwinkenden Händen und schiefem Grinsen und schlechten Witzen überreden, dass alles in
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