Maengelexemplar
möchte grade alles oder nichts, du genau die Mitte. Wir kommen nicht zusammen.«
Er nickt zustimmend.
»Ich weiß, das wirkt jetzt vielleicht unpassend, aber ich muss wirklich dringend pinkeln, kann ich bitte ganz kurz auf deine Toilette?«, frage ich. Kein Spielchen, ich meine es ernst. Ich hab schon ganz gelbe Augen, so voll ist meine Blase inzwischen.
David grinst spöttisch und sagt: »Jaja.«
Ich bin entrüstet. Ich muss wirklich dringend aufs Klo, und es ist mir schon unangenehm genug, dass ich jetzt nicht so stolz davonbrausen kann, wie es meine Entscheidung, zu gehen, eigentlich verlangt hätte. Ich setze zu einer Standpauke an, aber David lächelt und sagt: »Nun komm schon mit hoch!«
Wir gehen in seine Wohnung, ich aufs Klo und danach direkt wieder zur Wohnungstür hinaus. Ich will zeigen, dass ich es ernst meine.
David fragt: »Willste noch ein bisschen bleiben und einen Film mit mir sehen?«
Ich stehe verloren zwischen Hausflur und Wohnung rum. Was soll das? Was macht er mit mir? Ich kann nicht bleiben, ich will nicht. Ich muss gehen, so war es abgemacht!
»O.k.«, sage ich.
Wir sehen einen Film, und wir schlafen miteinander. Es ist ein klassischer Abschiedsfick. Sehr durchdringend, sehr wortlos.
Ich bleibe über Nacht und verabschiede mich am nächsten Morgen mit den Worten, die ich schon immer auch mal sagen wollte. »Ich melde mich, ja?«
Und dann gehe ich, nicht mehr ganz so stolz, aber trotzig wie nie aus Davids Haus.
Ich muss weiter.
Ich bin nicht sehr unglücklich, eigentlich fühle ich mich trotz dieses Endes mit Ansage sogar frei. Ich fühle mich amourös reanimiert. Ich bin ein weiteres Stückchen ins normale Leben zurückgeschubst worden. David hat mich defibrilliert.
Vielen Dank, David, aber jetzt muss ich weg und die Liebe finden!
Ich wünsche mir dramatische Musik, um diesen Moment zu unterstreichen.
Kinder, was würde das gut wirken jetzt!
Und damit ist er wieder raus aus meinem Leben. David, mein Übergangsmann. Das hat Mama gesagt. Dass man nach einer großen Beziehung nicht sofort eine nächste große Beziehung eingehen kann. Dass man jemanden für den Übergang braucht. Jemanden, der heilt und aufbaut und den Weg für den nächsten Richtigen ebnet. Natürlich ist er nicht wirklich weg aus meinem Leben. Ich denke oft an David, und manchmal rufe ich fast an. Aber David ist standhaft, ich weiß, er wird sich nicht anders entscheiden. Manchmal ruft er mich an, und dann haben wir immer den gleichen Dialog:
»Können wir schon Freunde sein?«, fragt David.
»Klar! Können wir auch miteinander schlafen?«, frage ich.
»Nein, das können wir nicht.«
»Schade, dann können wir keine Freunde sein.«
Mehrere Wochen lang spielen wir dieses Spitzenspiel, und irgendwann versuche ich es mal mit Freunde-Sein. Wir treffen uns in einem Café, neutrale Orte werden wohl nie aus der Mode kommen, und trinken Kakao. Von außen sehen wir aus wie alle anderen. Von innen funktioniert es nicht. Ich bin nicht interessiert an David als Freund. Ich merke, dass ich ihn auch nicht lieben will. Ich will ihn so, wie ich ihn kennengelernt habe. Ein Kokon, von dem ich blickdicht umschlossen werde und in dem ich wie eine Larve wachse und groß und stark werde. Das ist es, was ich jetzt brauche, und das ist es, was David nicht will.
Also gehe ich.
In einer alten »Apotheken-Umschau« lese ich, dass die Selbstmordrate in Deutschland während der lichtarmen Monate, vor allem um die Weihnachtszeit herum, drastisch steigt. Ich finde das durchaus nachvollziehbar. Der Winter schließt einen zu Hause ein. Nur bewegungsfetischistische Menschen genießen das Draußen zu jeder Jahreszeit. Der Rest macht Winterschlaf. Mit halbgeschlossenen Augen wankt er an dunklen Wintermorgen zur Arbeit, abends zur Kaufhalle und erreicht mit nassen Schuhen und letzten Kraftreserven das schützende Heim. Dort legt er sich vor den Fernseher, wickelt gegebenenfalls seine Familie wärmend um sich herum und schläft. Das klingt natürlich erst mal spitze, aber für jemanden, der zu Hause keine warmen Menschen und zudem ein wankelmütiges Innenleben hat, kann der winterliche Trübsinn allerdings schnell gefährlich werden. Ich bin plötzlich unheimlich dankbar dafür, dass mein großer Psychoauftritt im Frühsommer stattfand. Ich hatte mehrere lichtintensive Monate lang Zeit, mich aufzurappeln.
Und rechtzeitig zur Vorweihnachtszeit scheine ich wieder ganz die Alte. Meine Wohnung hat es dieses Jahr nicht leicht mit mir, denn
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