Maenner fuers Leben
hast noch ein bisschen mehr getan.» Ich beziehe mich hauptsächlich auf seine Arbeit, aber auch auf Carol, und wieder sehe ich mich um und suche nach Anzeichen dafür, dass er mit einer Frau zusammenlebt. Aber da sind keine. Kein weiblicher Touch, kein Foto von Carol. Genau gesagt, überhaupt kein Foto.
«Suchst du was?», fragt er spöttisch, als wüsste er genau, was ich denke.
«Ja», gebe ich sofort zurück. «Was hast du mit meinem Foto gemacht?»
Er hebt den Zeigefinger, und dann geht er zwei Schritte zu einem alten, verschrammten Schrank, zieht eine Schublade auf und wühlt darin herum. «Du meinst … das hier?» Er hält das Foto hoch, auf dem mir die Vorderzähne fehlen.
«Hör auf!», sage ich und werde rot.
Er zuckt die Achseln und schafft es, gleichzeitig selbstgefällig und betreten auszusehen.
«Ich kann nicht glauben, dass du das noch hast», sage ich und bin sehr viel entzückter, als ich es sein sollte.
«Ist ein gutes Bild», sagt er und stellt das Foto auf ein Regal, das eigentlich für Porzellan gedacht ist, aber mit Zeitungen vollgestopft ist. Wie früher ist alles an Leos Wohnung minimalistisch reduziert – bis auf das viele Papier. Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und Notizhefte sind buchstäblich überall verstreut und gestapelt, auf dem Boden, auf dem Couchtisch, auf Stühlen und in Regalen.
«So.» Er dreht sich um und geht zur Küche; sie ist völlig unverändert, sogar der grüne Linoleumboden aus den siebziger Jahren ist noch da. «Hast du Hunger? Kann ich dir was machen?»
«Nein, danke.» Selbst wenn ich hungrig wäre, ich könnte im Moment nichts essen.
«Kaffee?», fragt er und gießt welchen in seinen eigenen Becher. Einen pfirsichfarbenen Becher. Aha! , denke ich. Carol .
«Ja», sage ich. «Aber nur … eine halbe Tasse.»
«Eine halbe Tasse?» Er schiebt sich die Ärmel hoch. «Wer bist du? Meine Großmutter?»
«Aah», sage ich zärtlich, und ich erinnere mich an seine streitbare Großmutter. Ich habe sie nur einmal gesehen – auf einer Geburtstagsparty für seinen Neffen –, aber sie war eine von diesen lebhaften, exzentrischen alten Frauen, die immer sagen, was sie denken, und wegen ihres Alters damit auch noch durchkommen.
«Wie geht es deiner Großmutter», frage ich, und mir fällt auf, dass wir auf dem Nachtflug von L.A. hierher nicht viel über unsere Familien gesprochen haben.
«Oh, sie ist munter … putzmunter sogar.» Er nimmt einen weiteren Kaffeebecher für mich aus dem Schrank, einen weißen, auf dem auf der einen Seite etwas geschrieben steht, was ich aber von hier aus nicht lesen kann.
«Das ist unglaublich», sage ich, und meine Mutter kommt mir in den Sinn, wie immer, wenn ich Geschichten von älteren Menschen höre. Aber ich verdränge den Gedanken schnell, das ist jetzt wirklich zu viel.
«Also, im Ernst?», fragt Leo. «Nur ein halbes Tässchen, Grandma?»
Ich lache. «Okay. Eine ganze Tasse. Ich dachte nur …»
«Was dachtest du?»
«Das wir gleich lossollten.»
«Haben wir es eilig?» «Es regnet vielleicht.»
«Und?»
«Ich muss Fotos machen», sage ich entschlossen.
«Das weiß ich», sagt er ebenso entschlossen.
«Eben», sage ich. Ich habe mich doch bereits klar ausgedrückt – wieso kapiert er das nicht?
«Kannst du bei Regen nicht fotografieren?»
«Natürlich kann ich das.»
«Eben», macht er mich nach.
Das hier ist kokettes Geflachse – riskant, wenn man entschlossen ist, nicht etwas zu tun, was man nachher bereuen könnte.
«Ich meine ja nur …» Das sage ich schon seit der Junior High in unbehaglichen Situationen.
«Na, und meine sage nur, dass Bilder von Coney Island im Regen gar nicht so schlecht wären … oder?»
«Wahrscheinlich.» Das wäre vielleicht tatsächlich ganz schön, denke ich. Und Zeit mit Leo im Regen zu verbringen, wäre vielleicht auch wirklich schön.
«Dann setz dich.» Leo unterbricht meine Gedanken. Er deutet auf seine Couch, schaut mir in die Augen und sagt: «Bleib noch ein Weilchen.»
Ich halte seinem Blick stand und denke ängstlich und zugleich hoffnungsvoll an das, was ein «Weilchen» mit sich bringen könnte. Dann wende ich mich ab, setze mich ans hintere Ende der Couch, stütze den Ellenbogen auf die Armlehne und warte auf meinen Kaffee und auf ihn. Ich sehe zu, wie er ihn in den Becher gießt und gerade noch genug Platz für einen Spritzer Milch und zwei Löffel Zucker lässt. «Hell und süß, richtig?», fragt er.
«Wie kommst du auf die Idee, dass ich meinen
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