Maenner fuers Leben
auch älter; er stand im Berufsleben, er hatte wichtige Aufträge und strenge Deadlines. Aber er ließ mich an seinem Berufsleben teilnehmen; ich durfte mitkommen, wenn er Interviews machte, und am Wochenende nahm er mich mit in sein Büro, wo ich seine Ablage sortierte oder einfach zuschaute, wenn er seine Storys tippte (oder mich auf seinem Schreibtisch verführen ließ). Und er war genauso gern bereit wie ich, seine Freunde und Verwandten sitzenzulassen, weil er lieber mit mir allein war. Nur wir beide.
So blieb es monatelang – eine selige, magische Zeit. Wir bekamen nie genug davon, miteinander zu reden. Beim Abschied – am Telefon und von Angesicht zu Angesicht – zögerten wir jedes Mal, als könnte es das allerletzte Mal sein, dass wir miteinander sprachen. Wir opferten unseren Schlaf für diese Gespräche und stellten einander endlos Fragen über uns und die Vergangenheit. Kein Detail aus der Kindheit war zu trivial, und das ist immer ein sicheres Zeichen dafür, dass jemand verliebt ist – oder zumindest besessen. Leo löste sogar ein Foto von mir, auf dem ich sechs Jahre alt bin und keine Vorderzähne habe, aus einem meiner Alben, sagte, es sei «unendlich süß», und steckte es an die Pinnwand in seiner Küche.
Ich offenbarte ihm alles über mich; ich hielt nichts geheim, ließ keine Abwehrmechanismen zu. Ich erzählte ihm von jeder Unsicherheit, angefangen mit bedeutungslosen, aber peinlichen Kleinigkeiten – dass ich meine Knie immer scheußlich gefunden habe – bis hin zu tiefergehenden Problemen wie dem, dass ich mich neben Margot und unseren anderen weitgereisten, reichen Freunden in der Stadt immer unzulänglich gefühlt habe. Ich erzählte ihm alles über meine Mutter, auch ein paar ungeschminkte Details von ihrem Tod, über die ich noch nie mit jemandem gesprochen hatte. Dass ihr zerbrechliches Aussehen mich an Holocaust-Bilder erinnert hatte. Dass ich eines Nachts zugesehen hatte, wie mein Vater ihre Kehle mit dem Finger säuberte, weil sie buchstäblich keine Luft mehr bekam – ein Bild, das mich noch heute verfolgt. Dass ich irgendwann tatsächlich gebetet hatte, das Ende möge kommen – nicht nur, damit sie von ihren Qualen erlöst wäre, sondern auch, damit die Hospizleute und der Geruch des Todes aus unserem Haus verschwänden und mein Vater aufhören würde, sich um ihren Tod zu sorgen und ständig das Notizbuch mit seinen Beerdigungsvorkehrungen verschwinden zu lassen, wann immer ich ins Zimmer kam. Und wie entsetzlich schuldig ich mich in dem Augenblick fühlte, als es dann tatsächlich passierte, fast als hätte ich dafür gesorgt, dass sie früher starb als nötig. Ich erzählte Leo, dass ich mich manchmal fast schämte, keine Mutter mehr zu haben, als würde ich, was immer ich sonst im Leben erreichte, stets wegen dieser einen Tatsache gezeichnet, eingeordnet und bemitleidet bleiben.
Bei jeder Wendung hörte Leo mir zu, er tröstete mich und sagte immer das Richtige: Obwohl ich sie so jung verloren hätte, habe sie doch den Menschen geformt, der ich heute sei. Die Erinnerung an sie werde nie verblassen, und die guten Zeiten werden das Ende nach und nach überlagern. Meine Beschreibungen und Geschichten seien so lebendig, dass er das Gefühl habe, sie gekannt zu haben.
Auch Leo offenbarte mir seine Geheimnisse – hauptsächlich Geschichten von seiner dysfunktionalen Familie, von seiner passiven Hausfrau-Mutter ohne Selbstwertgefühl und seinem niederträchtigen, herrschsüchtigen Vater, dessen Anerkennung er nie wirklich finden konnte. Er wünschte, er hätte genug Geld gehabt, um auf ein besseres College mit einem größeren Namen zu gehen und tatsächlich sein Examen zu machen, und auch er fühlte sich manchmal eingeschüchtert von den Manhattaner Rich Kids mit ihren schicken Journalismus-Diplomen. Ich konnte kaum glauben, dass ein so erstaunlicher Mann wie Leo unsicher sein konnte, aber wegen seiner Verletzlichkeit liebte ich ihn noch mehr.
Und neben allem anderen – und vielleicht wichtiger als alles andere – war es die Chemie zwischen uns. Die körperliche Verbundenheit. Der atemberaubende, unglaubliche Sex, ein Stoff für Poesie und Porno, anders als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Zum ersten Mal war ich kein bisschen befangen oder gehemmt. Nichts schien verboten zu sein. Es gab nichts, was ich nicht für ihn, mit ihm und an ihm getan hätte. Wir sagten dauernd, es könne einfach nicht besser werden. Aber irgendwie wurde es immer besser, von Mal zu
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