Maenner in Freilandhaltung
hätte er schon vor einer Stunde hier sein sollen. Barfuß und mit feuchten Haaren rannte ich die Treppe hinunter.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Aber ich bin nicht früher aus dem Büro weggekommen.«
»Schon gut. Ein Blech Pizza steht im Ofen. Christopher übernachtet bei seinem Freund Marius, sie haben morgen erst zur dritten Stunde Schule. Lukas und Finn spielen noch draußen im Garten.«
Daniel zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Im Garten? Aber ich hab grad ums Haus herum geguckt. Im Garten ist niemand.«
»Dann haben sich die Schlingel bestimmt vor dir versteckt.« Gemeinsam gingen wir nach draußen. »Finn? Lukas? Wo steckt ihr?!«, riefen Daniel und ich abwechselnd.
Aber die Zwillinge machten sich offenbar einen Spaß daraus, uns suchen zu lassen. Wir schauten hinter jedem Baum und jedem Strauch nach. Fehlanzeige, Lukas und Finn blieben verschwunden. Auch im Geräteschuppen und im Haus fehlte jede Spur von ihnen. Wo zum Kuckuck trieben die beiden sich rum? Natürlich waren sie keine Babys mehr. Aber sie durften das Grundstück trotzdem nicht, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, verlassen. Bei dem Gedanken, was zwei Fünfjährigen ohne Aufsicht alles zustoßen konnte, krampfte sich mein Magen zusammen.
»Ich war nur schnell unter der Dusche«, stammelte ich aufgeregt. »Vielleicht zehn Minuten, oder fünfzehn, keinesfalls länger. Als ich reingegangen bin, haben Finn und Lukas noch ganz friedlich im Sandkasten gespielt.«
Beruhigend legte Daniel seine Hand auf meinen Arm. »Mach dir keine Sorgen, weit können sie nicht sein.«
»Da würde ich nicht drauf wetten«, sagte ich dumpf und wies auf den Carport, unter dem normalerweise die Fahrräder der Kinder standen. Sie waren nicht dort.
Während Daniel sich ins Auto schwang, um auf dem Spielplatz, in den umliegenden Scheunen und auf dem Fußballplatz nach Lukas und Finn zu suchen, telefonierte ich mir die Finger wund. Doch niemand schien Lukas und Finn gesehen zu haben. Der Anruf bei Erika und Friedhelm fiel mir besonders schwer.
»Verschwunden?!?« Der schrille Klang von Erikas Stimme zerfetzte fast mein Trommelfell. »Was soll das heißen? Kinder verschwinden nicht so einfach wie Socken oder Regenschirme. Schließlich ist es Ihr Job, auf die Jungen aufzupassen!«
Als würde ich mir nicht selbst schon genug Vorwürfe machen! Mit jeder Minute, die verstrich, wurde ich unruhiger. Wie ein eingesperrter Tiger lief ich durch das Haus, unfähig, auch nur eine Minute lang stillzustehen. Als ich Daniels Auto vor dem Haus vorfahren hörte, rannte ich nach draußen. Doch die Kindersitze auf der Rückbank waren leer. Während Daniel erneut losfuhr, um auch im Nachbardorf nach den Jungs zu suchen, klingelte mein Handy.
»Unbekannte Nummer« stand auf dem Display. Bitte, lieber Gott, mach, dass die Zwillinge wieder aufgetaucht sind, betete ich inbrünstig, als ich den Anruf entgegennahm.
»Ja?«, meldete ich mich atemlos.
Als Erstes hörte ich nur ein lautes Rascheln und Rauschen, doch dann vernahm ich undeutlich eine Stimme. Ninas Stimme! Entweder meine Schwester kaute beim Telefonieren auf einer Wolldecke herum, oder die Verbindung war lausig. Außer ein paar zusammenhanglosen Wortsilben verstand ich nichts!
»Nina!«, schrie ich. »Wo bist du? Wie geht’s dir?«
Die Antwort war erneut ein sphärisches Rauschen.
Erst meldete sie sich wochenlang gar nicht, und dann rief sie ausgerechnet jetzt an! Mit einem Schlag fühlte ich mich noch elender – falls das überhaupt möglich war. Schließlich hatte Nina mir die Verantwortung für die Jungs übertragen, und ich hatte auf ganzer Linie versagt: Zwei der drei Kinder waren verschollen – das klang nicht gerade nach einer Erfolgsbilanz. Ich dachte fieberhaft nach, was ich meiner Schwester sagen sollte, aber mir wollte partout nichts einfallen. Selbst wenn Nina nicht die leibliche Mutter der Zwillinge war, liebte sie die Jungs doch, als wären es ihre eigenen. Daran hatte mit Sicherheit auch der tote Maulwurf in ihrem Stiefel nichts geändert. Und nun waren Finn und Lukas weg! Mühsam kämpfte ich gegen die aufsteigenden Tränen an.
Es raschelte erneut in der Leitung.
»Nina, ich versteh dich nicht! Der Empfang ist so schlecht!«, brüllte ich ins Telefon.
»... adfjl ... ich komme ... safdh ... wieder.«
Ich versuchte, den Lückentext sinnvoll zu ergänzen. Ich komme morgen wieder? Ich komme gar nicht wieder? Bevor ich noch einmal nachfragen konnte, war die Verbindung unterbrochen.
Weitere Kostenlose Bücher