Maenner in Freilandhaltung
Worüber ich im Grunde genommen sogar ganz froh war. Denn solange Nina nicht hier vor Ort war, konnte sie ohnehin nichts tun. Außer sich Sorgen zu machen.
Die Nachricht vom Verschwinden der Zwillinge hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Und es dauerte nicht lange, da war das halbe Dorf auf den Beinen, um bei der Suche zu helfen. An unserem Esstisch hatten wir eine Telefonzentrale eingerichtet. Ein Bauer meinte, die Jungs auf einem Feldweg gesehen zu haben. Aber diese Spur verlief im Nichts. Weder die Suche auf den umliegenden Bauernhöfen noch in dem angrenzenden Waldstück brachte ein Ergebnis.
Je mehr Zeit verstrich, desto panischer wurde ich. Oh Gott, die Zeitungen berichteten fast täglich von schlimmen Gewaltverbrechen! Und nur weil Hasslingdorf einen so ruhigen und beschaulichen Eindruck machte, hieß das noch lange nicht, dass hier nichts Schlimmes passieren konnte. Bangen Herzens starrte ich abwechselnd auf das Telefon und zum Fenster hinaus. Wenn die Jungs nicht bald auftauchten, würden wir die Polizei einschalten müssen.
»Ich verstehe ja, dass ihr vor lauter Sorge völlig außer euch seid. Aber lasst uns noch einmal ganz in Ruhe überlegen, wo Lukas und Finn hingefahren sein könnten«, drang Jans Stimme wie durch eine dicke Watteschicht gedämpft zu mir hindurch.
Nachdem ich ihn angerufen und ihm erzählt hatte, dass die Zwillinge vermisst wurden, war er sofort hergekommen. Nun saß er gemeinsam mit Daniel und mir am Esstisch und erstellte eine Liste aller Personen und Aufenthaltsorte, die wir bereits abgeklappert hatten.
»Vielleicht habt ihr vergessen, irgendjemanden anzurufen, oder wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
»Was hast du gerade gesagt?«
»Vielleicht habt ihr vergessen, irgendjemanden anzurufen, oder wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht«, wiederholte Jan.
»Der Wunschbaum!«, rief ich plötzlich aufgeregt.
»Der Wunschbaum?« In Daniels Augen flackerte Hoffnung auf.
»Die alte Kastanie im Naturschutzgebiet. Die Kinder haben sie mir bei unserer Radtour neulich gezeigt.«
»Aber das ist viel zu weit«. Daniels Gesicht verdüsterte sich wieder. »Mit dem Fahrrad ist man eine halbe Ewigkeit unterwegs.«
Zugegeben, mit dem Auto war man schneller. Bloß gut, dass wir die Wagenschlüssel außerhalb der Reichweite der Kinder aufbewahrten.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die paar Kilometer für deine Söhne ein Hinderungsgrund sind, oder?«
Nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, dass Daniel zu Hause die Stellung halten sollte, schmissen Jan und ich zwei Fahrräder auf die Ladefläche von Jans Pick-up und brausten los. Das letzte Stück des Weges würden wir mit den Rädern zurücklegen müssen, denn die Kastanie war nur über einen schmalen Feldweg zu erreichen. Unterwegs sagte keiner von uns ein Wort. Ich krallte meine Finger so fest in den Autositz, dass die Knöchel weiß hervortraten. Angefangen beim lieben Gott bis hin zum Baumgeist beschwor ich alle überirdischen Wesen, die mir in den Sinn kamen, Lukas und Finn zu beschützen. Ich versuchte es sogar mit einem kleinen Deal. Bis wir an der Stelle angekommen waren, an der wir vom Auto aufs Fahrrad umsteigen mussten, hatte ich sämtlichen Lastern, inklusive meiner geliebten Nussschokolade, abgeschworen – vorausgesetzt, die Kinder kamen heil aus dieser Geschichte raus.
Zwar verlieh mir die Sorge um die Zwillinge keine Flügel, aber mein Körper setzte so viel Adrenalin frei, dass ich meine schmerzenden Beine kaum bemerkte, während ich, dicht gefolgt von Jan, schneller und schneller in die Pedale trat. Als die Kastanie in Sicht kam, entdeckte ich zwei kleine Gestalten, die am Fuße des Baumes kauerten. Gott sei Dank! Sie lebten!
Bei den Jungs angekommen, schmiss ich mein Fahrrad auf den Boden. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie zu schütteln und in den Arm zu nehmen, riss ich Finn und Lukas an mich. Vor Freude und Erleichterung hätte ich heulen können!
»Jungs, was macht ihr denn für Sachen? Ihr könnt doch nicht einfach wegfahren, ohne was zu sagen. Ich bin vor lauter Sorge um euch ganz krank gewesen.«
»Ehrlich?« Lukas, der gerade noch schuldbewusst auf seine Schuhspitzen gestarrt hatte, musterte mich interessiert. »So richtig mit Husten und Fieber?«
»Nein, mein Süßer.« Ich wuschelte ihm liebevoll durch die zerzausten Haare. »Ohne Husten und Fieber. Aber als ich nicht wusste, wo ihr seid und ob mit euch alles okay ist, habe ich mich richtig, richtig schlecht
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