Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi
wie der Wärter sie am vergangenen Abend angeordnet hat, die Rückseiten zur Nordsee gedreht. Auch die breiten Spuren eines Raupenfahrzeugs, das am Abend zuvor zwischen Wasserkante und der ersten Strandkorbreihe entlanggetuckert ist, sind noch unangetastet, kein Kind ist darüber gehüpft oder hat seine kleinen Füße in die rechteckigen Ausbuchtungen gedrückt.
Doch halt. An einer Stelle sind Schuhspuren zu sehen, tief haben sich die Abdrücke eines Paares großer flacher Schuhe in den Sand geprägt, und deutlich sind Hin- und Rückweg voneinander zu unterscheiden. Bald wird der Schattenwurf der steigenden Sonne Fuß- und Fahrzeugspuren überscharf akzentuieren und kurz darauf auch die eigentümliche Figur erfassen, die schräg in einem der Strandkörbe nah an der Wasserkante sitzt.
Es ist eine Frau, jung, nackt, sehr schlank ohne mager zu wirken. Ihre wenig gebräunte Haut leuchtet wie eine opalene Verheißung in der Morgendämmerung. Sanft modellieren sich Schultern, Brüste und Hüften vor dem blauweiß gestreiften Plastikbezug des Strandkorbs. Vollkommen entspannt, so scheint es, lehnt die Frau in der rechten Ecke des Sitzes, eine Hand locker über die Lehne gelegt. Ihre Füße stecken in hohen, sehr spitzen Schuhen von grellroter Farbe, die wie Fremdkörper in dem hellen Sand anmuten würden, wären da nicht die ungewöhnlich langen Haare der Frau, deren ebenfalls leuchtendes Rot gerade von den ersten Strahlen der aufsteigenden Sonne ergriffen und zum Glühen gebracht wird. Wie ein Heiligenschein umgeben die Haare das Madonnengesicht, als wollten sie von den hässlichen Würgemalen ablenken, die unterhalb des Kinns am vorderen Hals zu sehen sind. Ebenfalls rot, wenn auch weniger leuchtend als Haare und Schuhe befinden sich hier deutlich sichtbar Fingernagelspuren, die zu winzigen Hautverletzungen geführt haben und dadurch wie verspielte Punkte auf einer nachlässig grundierten Leinwand wirken. Auch die zahlreichen Unterblutungen im Gesicht, vor allem rund um die schreckstarr geöffneten Augen nehmen das Thema der roten Farbe wieder auf. Nur die vielen Fliegen, die eifrig Gesicht und Körper untersuchen, stören die Vollkommenheit der Komposition erheblich.
Noch hat niemand die Leiche entdeckt, noch ist der Strand menschenleer, auch wenn jetzt das Licht der Sonne seinen Rotstich verliert und sich in reinem Gold über die bizarre Szene ergießt.
Freitag, 17. Juni, 6.35 Uhr,
Fitnessstudio BodyCult , Westerland
Keuchend stemmt Kriminalhauptkommissar Bastian Kreuzer die 65-Kilo-Hantel. Es ist sein dritter Take in der vierten Runde, und er spürt langsam, wie die Gelenke zu zittern beginnen und damit das Ende der körperlichen Leistungsfähigkeit signalisieren. Langsam und vorsichtig lässt Kreuzer die Stange mit den Gewichten wieder sinken. Er weiß genau, dass sie, rutschte sie ihm aus der Hand, schwerste Verletzungen an Kehle oder Brustkorb verursachen würde. Es hat schon Fälle gegeben, in denen eine herabkrachende Stange einen Übenden erstickt hat, natürlich nicht in einem Studio, wo das Geräusch der herunterpolternden Gewichte sofort Helfer auf den Plan rufen würde. Auch hier stehen trotz der frühen Stunde zwei Männer in Sportbekleidung hinter dem Eingangstresen und haben ein Auge auf die wenigen Trainierenden.
Kreuzer richtet sich auf, legt die Gewichte zurück in die Halterung und greift nach dem Handtuch, das neben Handy, Wasserflasche und Garderobenschlüssel auf dem Boden liegt. Langsam wischt er sich den Schweiß von Stirn und Schultern, bevor er in langen Schlucken die Flasche leert. Das morgendliche Training absolviert der Hauptkommissar zweimal wöchentlich, nachdem er zu Beginn des Frühlings feststellen musste, dass der lange Winter und der Frust über das Ende seiner Beziehung zur Kollegin Silja Blanck offenbar seinem Gewicht nicht gut bekommen war. Wer monatelang in seiner kargen Freizeit vorzugsweise Burger in sich reinstopft und dabei wahllos alle Serien im Fernsehen an sich vorüberziehen lässt, muss sich nicht wundern, wenn er irgendwann nicht mehr muskulös, sondern eher korpulent wirkt. Eine abfällige Bemerkung Siljas, als sie Anfang März nach ihrer schweren Schulterverletzung wieder in den regulären Dienst eingetreten war, hatte das Fass dann zum Überlaufen gebracht. Seitdem trainiert Bastian im BodyCult , und zum Glück haben sich schon erste Erfolge eingestellt, so dass der Kommissar, als er seine Sachen einsammelt und langsam in Richtung der Umkleideräume geht,
Weitere Kostenlose Bücher