Maenner weinen nicht
der eine so, der andere anders reagiert, war lange unklar. Jahrzehntelang lag das Augenmerk vor allem darauf, was die Menschen krank macht. Was ihre psychische Gesundheit fördern könnte, danach hat lange keiner gefragt. Die Experten gingen davon aus, dass die Reaktion von Faktoren abhängt, die wir selbst nicht beeinflussen können. So mussten die Gene, das Leben, die Umwelt als Erklärung dafür herhalten, wie wir sind. Heute aber weiß man, dass Menschen ihrem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert sind. Mittlerweile gibt es sogar eine eigene Forschungsrichtung, die sich ausschließlich damit befasst: die sogenannte Resilienzforschung. Unter Resilienz (von lateinisch resilire – abprallen) verstehen Wissenschaftler die Fähigkeit, sich trotz widriger Umstände zu behaupten, den Herausforderungen des Lebens zu begegnen und entgegen der eigentlichen Logik auch daran zu wachsen.
Viele Märchen und Legenden leben davon, dass ihre Helden besonders resilient sind und sich nicht vom Schicksal unterkriegen lassen. Das bekannteste Beispiel sind Hänsel und Gretel. Sie wachsen in Armut auf. Die Mutter überredet den Vater in der Not, die Kinder in den Wald zu schicken. Doch Hänsel belauscht die Eltern bei ihrem Vorhaben und fasst einen Plan, um wieder nach Hause zu finden: Er lässt Kieselsteinchen fallen. Der zweite Versuch der Mutter, die Kinder loszuwerden, gelingt. Die Kinder irren im Wald umher, stoßen auf das Hexenhaus und werden von der Hexe gefangen. Später, als die Hexe Hänsel mästen will, trickst er sie aus und hält ihr ein ums andere Mal ein abgenagtes Knöchelchen entgegen. Als die Alte ungeduldig wird und ihn dennoch braten will, ergreift Gretel beherzt die Gelegenheit und schiebt die Hexe in den Ofen. Die Kinder nehmen die Schätze aus dem Hexenhaus mit und finden den Weg nach Hause. Dort erwartet sie der überglückliche Vater, die boshafte Mutter ist inzwischen gestorben. Offenbar hatten die Kinder während der ganzen Zeit im Wald und bei der Hexe immer darauf vertraut, dass ihre Odyssee eines Tages ein gutes Ende nehmen würde.
Doch wie genau verhält es sich mit der Resilienz? Wie schaffen es manche Menschen, mit großen psychischen Verletzungen und tiefen Narben zu leben, während andere schon an einem leichten Kratzer der Seele verzweifeln? Ist die Resilienz in uns angelegt, geben unsere Eltern sie uns mit auf den Weg? Sind wir alle mit dem gleichen »Schutzpaket« ausgestattet? Oder entwickelt sich Resilienz, lässt sie sich gar durch äußere Umstände fördern, beispielsweise durch das Aufwachsen in einer behüteten Familie?
Das Erkunden der seelischen Schutzhaut ist eine junge Wissenschaft. Einige Antworten hat sie schon gefunden, viele Sachverhalte sind aber noch Gegenstand der Forschung. Denn die Resilienzforschung hat ein Problem: Um seriöse Aussagen treffen zu können, müssen die Wissenschaftler Menschen von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter beobachten. Ihr Verhalten kann daher nur in sogenannten Langzeitstudien analysiert werden. Hierfür beobachten Forscher eine Gruppe von Menschen über viele Jahre hinweg. Ist die Studie abgeschlossen, kann sortiert werden: Wer hatte welche Voraussetzungen, damit sich sein Leben so oder so entwickelte. Wegen des hohen Aufwands sind diese Studien nur selten – weltweit gibt es nur zwischen 40 und 50.
Die Wiege der Resilienzforschung liegt in den USA . Aus der Taufe gehoben wurde dieser Forschungszweig zunächst für militärische Zwecke, denn viele amerikanische Kriegsveteranen leiden bis heute unter den Folgen ihres Einsatzes für die Army, sind obdachlos oder Säufer und kommen im Alltag nicht mehr klar. Eine der umfangreichsten Studien hat die amerikanische Psychologin Emmy Werner durchgeführt. Sie untersuchte seit Mitte der 1950er Jahre immer wieder eine Gruppe von Kindern, die auf der hawaiianischen Insel Kauai geboren und aufgewachsen waren. Von der Schwangerschaft über die Geburt bis hin zum 40. Lebensjahr nahmen Werner und ihr Team achtmal die Daten der 698 Kinder auf (im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren). Etwa 30 Prozent der Kinder waren dabei vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt gewesen: Bei ihrer Geburt gab es Komplikationen, sie wurden in ärmliche Verhältnisse und schwierige Familiensituationen hineingeboren, oder ein Elternteil war seelisch krank.
Ziel der Studie war es insbesondere herauszufinden, wie sich schwierige Startbedingungen in Kindertagen auf das spätere Leben auswirken. Zu ihrer Überraschung
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