Männerstation
die eigenen Zehen beißt …«
Karl Frerich hatte das Bild vom Nachttisch genommen und auf seine Bettdecke vor sich gestellt. Er legte den Silberrahmen hin, als Beißelmann zu ihm trat.
»Waren Sie nicht etwas zu grob zu ihr?« fragte er.
»Nein.«
»Auf jeden Fall bin ich Ihnen dankbar, daß Sie ihr nicht gesagt haben, wie es um mich steht. Ich habe ihr erzählt, daß mein Husten nur eine Erkältung ist.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Werd' bald wieder gesund …«
»Und da bringt sie Ihnen Zigaretten mit?«
»Sie wußte es doch nicht.«
»Allerdings.« Beißelmann nickte schwer. »Sie weiß es ja nicht.«
Er wandte sich ab. Es wurde ihm zu eng, und die Augen Frerichs, mit denen er das Bild seiner Frau betrachtete, reizten ihn, das Foto wie die Zigaretten vorhin in der Faust zu zerdrücken. Um dieser ungeheuren Versuchung zu entgehen, verließ er das Zimmer und stand eine Weile unschlüssig im Flur. Er hörte Schwester Angela im Zimmer 1 schimpfen, weil ein Patient statt in die ›Ente‹ neben das gläserne Gefäß ins Bett gemacht hatte. Dies zu regeln war eigentlich seine Aufgabe, aber er ging nicht zu Zimmer 1, sondern in die Teeküche. Dort traf er Schwester Inge. Sie saß am Fenster und weinte leise vor sich hin.
»Nanu?!« sagte Beißelmann. »Was soll denn das? Wer hat Ihnen denn was getan?«
Schwester Inge wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Ach … nichts.«
»Um nichts weint man nicht.«
»Ich möchte weg von hier.«
»Aber wir können es nicht.«
Schwester Inge sah Beißelmann erstaunt an. »Sie wollen auch weg?«
»Ja.«
»Wohin?«
»Ich kenne einen Ort, wo herrliche Ruhe ist, wo alles lautlos seinen Gang geht, wo es nur Kameraden gibt und die übrige Welt so weit entfernt ist, daß sie einen gar nicht mehr interessiert. Ein Ort voller Frieden.«
»Und dorthin wollen Sie?«
»Ja.«
»Nehmen Sie mich mit?«
»Das geht nicht.«
»Warum?«
Beißelmann setzte sich neben Inge und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Weshalb wollen Sie weg, Inge? Wegen Schwester Angela?«
»Nicht allein.«
»Doktor Pflüger …?«
»Ja.«
»Er will Sie jetzt zwingen, nicht wahr?«
»Er hat es angedroht. Und ich muß noch zwei Jahre hierbleiben.«
»Ich werde mit dem Professor sprechen.«
»Bitte nicht!« Inge umklammerte Beißelmanns Hände. »Ich schäme mich ja so – Und was soll das nützen? Es wird nur noch schlimmer!« Sie putzte sich die Nase und strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Und außerdem ist dann die Station ohne Schwester … die Kranken können ja nichts dafür …«
In der Tür zur Teeküche erschien die Gestalt von Schwester Angela. »Was ist denn hier los?« rief sie. »Muß ich alles allein tun? Im Zimmer 1 beschmutzen sie mutwillig die Betten, und der Krankenpfleger hält Händchen.«
»Zimmer 1?« Beißelmann drückte Inge auf den Stuhl zurück, als sie aufspringen wollte. »Herr Schwering etwa?«
»Genau der! Statt in die ›Ente‹ …«
»Aber Schwester!« Beißelmann wiegte den Kopf hin und her. »Herr Schwering ist fünfundsiebzig. In diesem Alter können auch Sie nicht mehr zielen.«
»Flegel!« Schwester Angela verschwand. Man hörte sie noch auf dem Flur schimpfen, als sie zur Wäschekammer ging. Beißelmann stand auf. »Es wird sich etwas finden, Inge«, sagte er fast väterlich und strich ihr über den Nacken. »Ich werde immer bei Ihnen sein … Sie brauchen gar keine Angst zu haben.«
Sie nickte, aber es war kein Nicken, weil sie eine Antwort geben mußte, sondern sie spürte wirklich, daß sie ruhiger wurde.
Im Zimmer 1 saß der alte Herr Schwering neben dem Bett und kraulte sich die weißen Haare. Neben ihm lagen auf einem Haufen das Bettuch und der Bezug. Als er Beißelmann kommen sah, hob er beide Arme.
»Ich kann doch nichts dazu!« rief er, bevor der Krankenpfleger etwas sagen wollte. »Bestimmt … ich habe geglaubt, ich hätte die ›Ente‹ richtig …«
»Ruhig, Opa, ruhig!« Beißelmann klopfte dem Greis auf die Schulter. Der verängstigte alte Mann schluckte ein paarmal krampfhaft.
»Hat die mich ausgeschimpft … ich sage Ihnen … so hat ja meine Alte nicht mit mir gesprochen …«
Beißelmann schob mit dem Fuß die schmutzige Wäsche hinaus auf den Gang. »Was verstehen die Weiber schon davon!« sagte er.
*
Die Operation des Hypernephroms, eine Nephrektomie, begann um neun Uhr vormittags. Prof. Morus hatte sich zu diesem Eingriff entschlossen, weil die andere Niere noch nicht befallen war und Metastasen sich noch
Weitere Kostenlose Bücher