Männerstation
er.
»Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, als Sie diesen Zauber auf Station III inszenierten?« Die Stimme Dr. Pflügers war heiser vor Erregung. Beißelmann nickte mehrmals, ehe er antwortete.
»Ich habe mir gedacht: ehe die kleine Schwester Inge das Krankenhaus wechselt, ist es besser, ein Oberarzt geht vor die Hunde.«
»Aha!«
»Ja. Ich mache Sie so lange lächerlich, bis Sie von selbst gehen.«
»Das wird Ihnen nicht gelingen!« schrie Dr. Pflüger.
»Aber ja, Herr Oberarzt.« Beißelmann lächelte milde, als müsse er ein Kind ermahnen mit väterlicher Überzeugungskraft. »Das wichtigste auf einer Station ist nicht der Arzt, sondern der Pfleger. Der Arzt kommt nur einmal am Tag, aber der Pfleger ist immer da. Entweder er will oder er will nicht. Will er nicht, kann jemand stundenlang in seiner Scheiße liegen und klingeln und klingeln – bis er merkt, daß es besser ist, sich gut mit ihm zu stellen. Glauben Sie mir, das hat man bald raus, und es spricht sich bei den Neuen herum. Man ist so etwas wie eine Schlüsselfigur, wissen Sie! Und wenn ich sage: Die ganze Station läßt den Doktor Pflüger hochgehen – dann werden Sie hochgehen, Herr Oberarzt.«
Dr. Pflüger hatte mit offenem Mund zugehört. Was er hier vernahm, war eine alte Weisheit, aber noch niemand hatte sie so schonungslos ausgesprochen. Daß es Beißelmann wagte, mußte beweisen, daß er sich seiner Sache völlig sicher war.
»Ich werde Sie dem Herrn Professor melden«, sagte Dr. Pflüger tonlos.
»Das tun Sie nicht.« Beißelmann lächelte breit. Er schielte zur Seite auf das Sofa, und Dr. Pflüger verstand.
»Sie haben keinen Zeugen!« schrie der Oberarzt. »Man wird mir mehr glauben als einem Zuchthäusler!«
»Wir könnten es versuchen.«
Dr. Pflüger wischte sich über das Gesicht. Er schwitzte, und es war kalter Schweiß, der an den Handflächen klebte.
»Es war ein großer Fehler, Sie frühzeitig zu begnadigen«, sagte er dumpf.
Beißelmann nickte wieder. »Das weiß ich.«
»Was wissen Sie?!«
»Daß es ein Fehler war. Im Gefängnis war alles so klar, so einfach, so wundervoll geregelt. Da war das Leben unkompliziert und sorglos. Ich hatte meine Einzelzelle, ich konnte Bücher lesen, soviel ich wollte. Ich hatte ein Gärtchen, das ich in Ordnung hielt, ich arbeitete im Gefängnisrevier, einmal in der Woche verteilte ich die Zeitung, einmal im Monat sahen wir einen Film, und zu Weihnachten übten wir ein Weihnachtsspiel ein, das wir in der Kirche aufführten. Es war alles so schön, so ruhig, so selbstverständlich. Aber hier draußen, in der sogenannten Freiheit? Was ist sie denn, diese Freiheit?! Hetze, Mißgunst, Neid, versteckte Verbrechen am laufenden Band, Gemeinheit, Umsichtreten, Gaunerei, Lüge und Verrat, Seelenlosigkeit, Betrug am Nächsten, Knechtung der Meinung, Verfolgung und Vernichtung. Kein Verbrechen gibt es, das in der sogenannten Freiheit nicht verübt würde und das zum täglichen Leben der Menschen gehört, die sich frei nennen! Mein Gott, ich habe Sehnsucht nach meiner Einzelzelle … hier draußen zwingen einen ja die Menschen dazu, das Gute wegzuwerfen und wieder gemein zu werden, um überhaupt weiterleben zu können! Der gute Mensch wird erdrosselt, und das nennt man ›das Leben‹!« Beißelmann beugte den Kopf etwas vor. Seine Fischaugen starrten Dr. Pflüger an. »Sie sehen, daß ich nichts zu verlieren habe. Sie täten mir einen Gefallen, wenn ich zurück ins Gefängnis käme.«
Dr. Pflüger stand auf und ging ans Fenster. Es war, als weiche er vor Beißelmann zurück.
»Sie … Sie hätten auch keine Hemmungen, einen Menschen umzubringen«, sagte er heiser.
»Nein!« Beißelmann schüttelte den Kopf. »Wenn es notwendig sein sollte …«
»Es ist Mord, Mann!«
»Es gab bei uns eine Zeit – allzulange ist sie noch gar nicht her –, da bekam man für jeden Mord einen Orden! Da brachte man Männer um, die einem nichts getan hatten, die man nicht kannte, die nur eine andere Uniform trugen. Das allein genügte. Wenn so etwas möglich war, warum soll man dann nicht einen Menschen umbringen, der es verdient hat?«
»Mein Gott – welch eine Moral! Sie sind ein Wahnsinniger, Beißelmann. Sie müssen hinter Gitter …«
»Ich will es ja!« Die Stimme des Krankenpflegers schwoll an. »Himmel noch mal, ich will doch! Die Menschen um mich herum zwingen mich ja, zu töten! Da sind Sie, der einen Patienten mit seiner Frau betrügt, da ist …« Beißelmann schwieg und nagte an der
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