Männerstation
jeder Station ein solches Zimmer freigehalten. Früher starben die Kranken in aller Öffentlichkeit, und zehn andere Patienten sahen zu, wie die Verwandten um das Bett saßen und warteten und weinten, und wünschten sich sehnlich, daß endlich das hohle Röcheln aufhörte, das Bett leer wurde und man wieder am Tisch Skat spielen durfte.
In dem kleinen Einzelzimmer saßen auf Stühlen sieben stumme Menschen um das Bett. Die Vorhänge waren zugezogen, durch das Halbdunkel tönte nur das rasselnde Atmen des Sterbenden. Als Dr. Bernfeld eintrat, flogen alle Köpfe zu ihm herum. Ein großer Mann stand auf und machte Platz am Bett.
»Wie lange noch, Doktor?« flüsterte er, als Dr. Bernfeld neben ihm stand. »Es ist schrecklich, wie mein Vater leidet. Er hat ein so starkes Herz.«
»Er spürt keine Schmerzen mehr.«
»Das ist ein Trost, Doktor.« Der große Mann wischte sich über die Augen. »Seit zwei Tagen stirbt er schon. Immer dieses Röcheln. Können Sie nicht … ich meine, eine Spritze … es ist doch eine Erlösung …«
»Nein!« Die Antwort war laut und hart. Die Köpfe der anderen, die den Sterbenden ansahen, zuckten zusammen. »Von Gott kam das Leben, und Gott wird es auch nehmen …«
»Ich denke, Sie sind Arzt, und sprechen wie ein Priester!«
»Früher, im Altertum, war der Arzt auch gleichzeitig Priester! Ich halte das für eine gute Verbindung.«
Dr. Bernfeld verließ wieder das kleine Zimmer. Der große Mann setzte sich zurück auf seinen Stuhl und schob ihn wieder ans Bett heran.
»So ein junger Mann«, sagte er leise zu seiner Frau neben sich, »und immer noch diese altmodischen Ansichten. Hier wäre es doch eine Hilfe für Papa …«
Am nächsten Tag lag Heinrich Dormagen zwar noch immer auf Männerstation III und im Zimmer 5, aber er befand sich da in einer Art Schwebezustand, auf einem Wolkenkissen, federleicht und selig. Er hatte am Morgen eine neue Morphiumspritze erhalten, nachdem die Nachtinjektion abgeklungen war und er vor Schmerzen wieder zu stöhnen und zu rufen begann.
So traf ihn Frau Dormagen an, als sie mit Margot Staffner zur Besuchszeit ins Krankenhaus kam. Entsetzt fiel sie auf den Stuhl neben dem Bett und ergriff die schlaffe, weißgelbe Hand ihres Mannes.
»Heinrich!« rief sie leise. »Heinrich …!« Und dann lauter, sich über ihn beugend. »Heinrich … Heinrich, was ist denn? Hörst du mich? Was ist denn? Mein Gott!« Sie sah sich im Zimmer um und begegnete ernsten und mitleidigen Augen. »Meine Herren …«, stammelte sie. »Was … was ist denn mit meinem Mann los? Sie sind doch immer hier … was ist denn geschehen?«
»Er bekam Schmerzen. Und da hat man ihm eine Morphiumspritze gegeben, weiter nichts.« Hieronymus Staffner schluckte. »Kein Grund zur Aufregung, Frau Dormagen.«
»Nein, bestimmt nicht.« Lukas Ambrosius versuchte ein Lächeln. »Der hat gestern abend noch Witze gerissen.«
Das war zwar gelogen, aber alle sahen, wie Frau Dormagen aufatmete; daß es sie sichtlich tröstete. Paul Seußer bekam wieder seinen Schluckauf vor Aufregung und ging aus dem Zimmer, um nicht weiter Zeuge zu sein.
Erna Dormagen hielt noch immer die Hände ihres Mannes umklammert und starrte ihn an. Er war innerhalb von zwei Tagen verfallen und sah fremd und fast zierlich aus. In dem Dämmerzustand, in dem er jetzt lag, mit halbgeöffnetem Mund und flatternden Augenlidern, mit glänzenden Augen, die nichts mehr erkannten, und mit stoßweisem Atem machte er den Eindruck, als wenn es in jeder Minute zu Ende ginge. Es war ein Gedanke, den Erna Dormagen mit Gewalt von sich fortdrängte. Es ist ja nur ein nervöses Magenleiden, sagte sie sich. Alle haben es gesagt … der Professor, der Oberarzt, der nette, junge Stationsarzt. Er hat zu wenig Magensäure, und dadurch belasten die Speisen den Magen und die Magenwände … Es war so viel gewesen, was man ihr gesagt hatte. Sie konnte es nicht behalten, aber soviel hatte sie herausgehört, daß kein Anlaß zur Besorgnis bestand.
»Heinrich«, sagte sie wieder und beugte sich über ihn. »Heinrich … kannst du mich hören?« Da Dormagen nicht antwortete, wandte sie sich an Frerich, der im Nebenbett lag. »Wie stark so eine Spritze wirkt, nicht wahr?«
»Ja, sehr stark.« Frerich rettete sich zu einem Buch, das er vor sein Gesicht hielt. Er gab sich Mühe, nicht mit den Händen zu zittern. Lukas Ambrosius kam langsam zum Bett Dormagens und setzte sich neben die ängstliche, hilflose Frau.
»Sie sollten nicht so ängstlich sein«,
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