Männerstation
sagte er. »Jeder reagiert anders auf Morphium. Ihr Mann schläft wie ein Murmeltier. Als ich Morphium bekam, habe ich im Halbschlaf einen Witz erzählt, nach dem die Schwestern noch drei Tage mit roten Köpfen herumliefen, wenn sie mich ansahen!«
»Halt die Fresse, Lukas!« brummte Staffner. Frau Dormagen sah mit einem schiefen Lächeln zu ihm hin.
»Ach, lassen Sie nur. Er ist ein so lustiger Mensch. Wann wacht er denn wieder auf … mein Mann …«
»Das kann bald sein.« Staffner schob sich im Bett hoch. »Ganz langsam kommt er wieder zu sich … Übrigens, wissen Sie, wo meine Frau hinwollte?«
»Soviel ich weiß, zu dem Herrn Oberarzt.«
»Ach! Wegen meiner Entlassung.«
»Sicherlich.«
Hieronymus Staffner schnaufte durch die Nase. »Meine Frau freut sich, daß ich nach Hause komme. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie die sich freut! Die zählt die Tage und die Stunden … Und so wird es auch sein, wenn Heinrich wieder gesund ist …«
Erna Dormagen sah Staffner dankbar an. »Glauben Sie, daß mein Mann wieder gesund wird?«
»Aber Frau Dormagen! Der ist der gesündeste von uns allen!«
»Aber Morphium – warum denn Morphium?«
Darauf wußte keiner eine Antwort mehr. Es war wie eine Erlösung, als Beißelmann eintrat und mit einem kurzen Blick die Lage erkannte. Er tappte auf Erna Dormagen zu, fühlte den Puls Dormagens und legte seine große Hand auf die Stirn des Kranken. Mit weiten Augen sah ihm Frau Dormagen zu.
»Was … was ist mit ihm?« fragte sie. Beißelmann setzte sich auf die Bettkante.
»Der Mensch ist ein merkwürdiges Geschöpf«, sagte er mit seiner dumpfen Stimme. »Er schuftet und schuftet … zwanzig, dreißig, vierzig Jahre lang … und am Ende liegt er da, und weiß nicht, warum er das alles getan hat.«
Lukas Ambrosius erhob sich und ging zu seinem Bett zurück. Er konnte den Blick Erna Dormagens nicht mehr aushalten, diesen Blick, der zu begreifen begann, was sich unaufhaltsam vollzog.
»Nein …«, sagte Erna Dormagen leise. »Nein … das ist doch nicht wahr … Heinrich …« Sie beugte sich vor und ergriff wieder seine schlaffen Hände. »Heinrich … das ist doch nicht wahr!« Dann fuhr ihr Kopf zu Beißelmann herum, ein wildes Aufbäumen gegen ein Schicksal, das niemand in dieser Stunde begreifen will. »Er war doch nie krank! Wieso denn … wo ist der Arzt? Ich will den Professor sprechen! Ich will …« Ihre Stimme schlug über. »Man hat mir immer gesagt, daß mein Mann … Warum hat man nicht früher … warum hat man nichts getan … Jawohl, nichts, gar nichts hat man getan! Nur hier gelegen hat er … und auf einmal … Ich will den Professor sprechen!«
»Der Herr Professor ist nicht im Hause.« Beißelmann drückte Erna Dormagen auf den Stuhl zurück. So plötzlich die Auflehnung war, so schnell kam die Schwäche. Der Anblick ihres Mannes machte sie völlig willenlos; sie sank zurück und schlug die Hände vor die Augen.
»Nein …«, sagte sie nur immer, während sie weinte. »Nein! Nein! Nein!«
Sie durfte über die Besuchszeit hinaus auf der Station bleiben. Bis zum Abend saß sie neben dem Bett und erlebte, wie Heinrich aus dem Morphium erwachte, wie die Schmerzen wieder begannen und er sich anstrengte, es ihr nicht zu zeigen, und doch mit den Zähnen knirschte. Bis er es nicht mehr aushielt, die Hände auf den Bauch preßte und schrie: »Warum kriege ich denn keine Spritze?! Gebt mir doch eine Spritze … Mein ganzer Bauch brennt …«
Dr. Bernfeld kam und gab ihm eine Injektion. Sie milderte etwas den Schmerz, so daß er erträglich blieb und Dormagen in der Lage war, sich weiter mit seiner Frau zu unterhalten.
»Ich sterbe«, sagte Dormagen und hielt die Hand seiner Frau fest.
»Aber nein, Heinrich.« Erna Dormagen schüttelte tapfer den Kopf. »Wo denkst du hin!«
»Ich habe Magenkrebs … ich weiß es! Alle haben mich belogen, alle … du auch …«
»Aber Heinrich!«
Am Abend wurde das kleine Zimmer frei. Schwester Angela und Schwester Inge bezogen sofort das Bett neu, nachdem sie die Matratzen gewechselt hatten, das Zimmer eine Stunde lang lüfteten und dann mit einer Desinfektionslösung auswaschen ließen. Es war bereit, Heinrich Dormagen aufzunehmen und ihn nur als stummen, langgestreckten Körper zu entlassen.
Als Beißelmann mit dem rollenden Bett kam, nickte Dormagen langsam. »Macht es gut, ihr anderen«, sagte er, bevor man ihn aus dem Zimmer 5 rollte. Er hob die abgemagerte Hand zum Gruß. »Ich habe viel Spaß bei euch
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