Männerstation
…«
»So geht es Tausenden, Herr Dormagen.«
»Aber warum?«
»Beim Krebs hört das Fragen auf. Es gibt keiner eine Antwort; weder Gott noch ein Arzt. Im Gegenteil: Jeder Arzt hat Angst vor diesen Fragen, weil er mit einer Antwort bekennen muß, wie wenig er weiß. Und besonders die Frage: Warum haben Sie es nicht frühzeitig erkannt? – das ist eine Frage, die jeder Arzt mehr haßt als die Pest, denn die Pest kann er besiegen.«
Heinrich Dormagen schwieg. Sein blasses Gesicht verzerrte sich nur, die Augen versanken, der Mund klaffte zitternd auf, über seine Wangen zuckte es wild. Mit beiden Händen fuhr er zum Leib und preßte die Handflächen auf Magen und Bauch.
»Da ist es wieder …«, stöhnte er. »Das Feuer … O Gott! O Gott! Gebt mir eine Spritze … gebt mir eine Spritze … helft mir doch … helft …«
Beißelmann sprang auf. Unschlüssig sah er auf den stöhnenden und sich noch im Bett krümmenden Dormagen. Die letzte Injektion war gegen sieben Uhr abends gegeben worden, die normale Dosis, aber sie wirkte nicht mehr lange auf den Schmerz ein, der sich durch den Leib fraß.
Erna Dormagen sah zitternd um die weiße spanische Wand herum. »Helfen Sie ihm, Herr Beißelmann … bitte, bitte …«, stammelte sie.
Dormagen stöhnte auf; er ergriff einen Zipfel der Decke und biß hinein, mit knirschenden, klappernden Zähnen. Dann schrie er, den Deckenzipfel festgebissen im Mund. Ein hohler, röchelnder Schrei, der das Herz Erna Dormagens zerschnitt. Sie taumelte zurück zum Sofa und fiel mit dem Gesicht nach unten in das Kissen.
Beißelmann rannte aus dem Zimmer. In der Teeküche saß noch immer Schwester Inge. Neben ihr waren die Medikamente aufgebaut, die bei Bedarf gebraucht werden würden. Sie fragte nicht erst, als Beißelmann in die Küche stürzte, sondern griff nach einem blinkenden Spritzenkasten.
»Hier …«, sagte sie.
Beißelmann rannte wieder zurück zum kleinen Zimmer. Das Absägen der Ampullenspitze, das Aufziehen, das Hinausdrücken der Luft aus dem Glaskörper … es waren Handgriffe, die Sekunden dauerten. Dann schob er die Decke weg und legte den schmal gewordenen, fast kindlichen Oberschenkel Dormagens frei. Schon während des Eindrückens des Morphiums wurde Dormagen ruhiger … dann streckte er sich aus, die Verkrampfung löste sich … er schwamm wieder auf Wolken durch einen riesigen Raum, schwerelos und frei … Sein Blick verlor das Erkennen … er war nur noch ein Klumpen atmendes, durchpulstes Fleisch.
Erna Dormagen stand neben Beißelmann, als dieser sich aufrichtete. Ihr Gesicht war eine bleiche, starre Maske.
»Wie … wie lange wird es noch dauern?« fragte sie tonlos.
»Vielleicht bis morgen, vielleicht noch zwei Wochen … man weiß es nie!«
»Das möge Gott verhüten.« Erna Dormagen setzte sich an das Bett ihres Mannes und streichelte ihm über die kalte, schweißige Stirn. »Er soll ihn schnell erlösen …« Ihr Kopf zuckte zu Beißelmann herum. »Ihm kann doch keiner mehr helfen, das stimmt doch, nicht wahr?«
Beißelmann nickte. »Ja«, sagte er mit rauher Stimme. »Keiner kann ihm mehr helfen.«
Er steckte die Spritze in die Tasche und schob die weiße Spannwand näher um das Bett herum.
»Sie sollten auch schlafen, Frau Dormagen«, sagte er an der Tür. »Ihr Mann wird jetzt ganz ruhig sein, bis zum Morgen. Schlafen Sie etwas. Ich komme zurück und paß auf ihn auf.«
Er nickte ihr zu, und Erna Dormagen gehorchte wie ein kleines Kind, streckte sich auf das Sofa aus und schloß die Augen. Sie kam sich geborgen vor und wurde ganz ruhig bei dem Gedanken, daß Beißelmann gleich zurückkommen und wachen würde.
Dann schlief auch sie. Beißelmann ging noch einmal von Zimmer zu Zimmer, lautlos von Bett zu Bett. Dann setzte er sich neben Dormagen hinter die weiße Stoffwand und starrte vor sich hin. Es war ihm leicht, die Stunden mit Gedanken auszufüllen. Sein Leben reichte aus für Hunderte durchwachte Nächte.
Über das Krankenhaus wanderte der Mond; er begann bei der Spitze der Kapelle, zog längs über das Dach der Chirurgie, über die Lukenfenster des Schwesterntraktes und verließ den Komplex über den Schornstein der Wäscherei.
Die Männerstation III schlief …
Vier Tage später lebte Heinrich Dormagen noch immer. Aber es war nur noch ein Atmen und Röcheln ohne Geist, ein Zucken des Herzens unter der Betäubungsglocke des Morphiums. Dormagen erkannte niemanden mehr, von Injektion zu Injektion dämmerte er dahin, verfiel und verging,
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