Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
geladen habe.«
Einst sprach ein Unsterblicher zu ihm: »Du hast durch deine Hilfe in allerlei Krankheiten dir ein großes Verdienst erworben. Aber du gebrauchst in deinen Rezepten viel getötete Tiere. Tiere zu töten, ist eine Sünde. Darum wirst du zwar die Unsterblichkeit erlangen, aber nur, nachdem du dich von deinem Leib getrennt. Es wird dir nicht gelingen, bei Leibesleben zu entschweben.«
Von da ab gebrauchte der Arzt nur noch Kräuter und Pflanzen, um die Krankheiten zu heilen.
Endlich schien er krank zu werden und starb. Doch änderte sich der Ausdruck seines Gesichtes im Tode nicht. Als man den Leichnam zum Sarge trug, da waren nur noch die Kleider übrig, wie die leere Hülle einer Zikade.
Als der Kaiser Ming Huang im Vierstromlande weilte, sah er im Traume einen Greis im weißen Haar und Bart und gelben Kleidern. Der sprach sich neigend: »Ich bin der Arzt Sun Sï Mo. Ich hause auf dem Omi-Berg. Da ich von der Ankunft Eurer Hoheit erfahren, bin ich zum Gruß herbeigeeilt. Auch habe ich eine Bitte. Ich bereite den Stein der Weisen. Dazu brauche ich noch achtzig Lot Realgar vom Vierstromland. Wenn Ihr die Güte habt, sie mir zu schenken, so sendet sie zum Omi-Berg.«
Der Kaiser versprach’s und sandte das Gewünschte nach dem Omi-Berg, wo der Arzt erschien und es dankend in Empfang nahm.
»Ich habe hier auf dem Berge kein Papier; darum habe ich meinen Dank auf einen Stein geschrieben. Schreibt ihn bitte ab!«
Der Bote sah richtig einen Stein, der mit rotem Zinnober beschrieben war. Als er die Worte abgeschrieben hatte, verschwand der Greis zusammen mit dem Stein. Von da ab war er bald unsichtbar, bald sichtbar.
Zum letzten Male ward er gesehen, als er einem zehnjährigen Knaben, der sich dem Buddha geweiht hatte, begegnete. Der brachte ihn mit nach Hause. Er nahm nun aus seinem Ärmel ein Pulver hervor, ließ Tee kochen und tat es hinein. Dann trank er selbst davon und ließ auch den Knaben trinken. Der Knabe schwebte zum Himmel empor, und der Greis entschwebte mit ihm zusammen. Als man nach dem Teetopf sah, hatte er sich in gelbes Gold verwandelt.
Sun Sï Mo ward später als König der Ärzte verehrt, und seine Tempel findet man noch bis zum heutigen Tag. Zu seiner Rechten und Linken sieht man einen Tiger und einen Drachen.
92. Der Mönch am Yangtsekiang
Der Buddhismus entstand im südlichen Indien auf der Insel Ceylon. Dort lebte der Sohn eines brahmanischen Königs. Er hatte in seiner Jugend die Heimat verlassen und abgesagt allem Wünschen und Fühlen. Mit großer Selbstverleugnung kasteite er sich, um alle lebenden Wesen zu retten. Mit der Zeit erreichte er geheimen Sinn und wurde Buddha genannt.
Zur Zeit des Kaisers Ming Di der östlichen Han-Dynastie erblickte man im Westen einen goldenen Glanz, der dauernd blitzte und leuchtete.
Eines Nachts träumte dem Kaiser, dass er einen goldenen Heiligen, zwanzig Fuß hoch, mit geschorenem Haupt und nackten Füßen, in indischen Kleidern eintreten sah, der zu ihm sprach: »Ich bin der Heilige aus dem Abendlande. Meine Lehre soll im Morgenlande ausgebreitet werden.«
Als der Herrscher erwachte, wunderte er sich über diesen Traum und sandte Boten aus in die westlichen Länder, um nachzuforschen, was an der Geschichte sei.
Auf diese Weise kam die Lehre Buddhas nach China und nahm immer mehr an Einfluss zu bis auf die Zeiten der Tang-Dynastie. Damals waren vom Kaiser und König an bis herunter zu den Bauern in den Dörfern Weise und Toren gleichermaßen von Ehrfurcht vor Buddha erfüllt. Unter den letzten beiden Dynastien jedoch geriet die Lehre immer mehr in Verfall. Die Buddhistenmönche laufen heutzutage in die Häuser der Reichen, sagen ihre Sutren auf und beten gegen Bezahlung. Von den großen Heiligen der alten Zeit ist nichts mehr zu hören.
Zur Zeit des Kaisers Tai Dsung aus der Tang-Dynastie geschah es, dass einst große Dürre herrschte, also dass der Kaiser und alle Beamten überall Altäre errichteten, um Regen zu erflehen.
Da redete der Drachenkönig des Ostmeers mit dem alten Drachen der Milchstraße und sprach: »Heute bitten sie drunten auf der Erde um Regen, und der Herr hat die Bitten des Königs von Tang erhört. Morgen musst du drei Zoll Regen fallen lassen.«
»Nein, ich muss nur zwei Zoll Regen fallen lassen«, sprach der alte Drache.
Also gingen die beiden Drachen eine Wette ein, und der, der Unrecht hatte, sollte zur Strafe zum Schlamm-Molch werden.
Am Tage darauf kam plötzlich ein Befehl des höchsten Herrn heraus,
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