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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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im Wasser vor sich her, dass es wie ein Pfeil die Wogen durchschnitt. Eine Nacht lang dauerte es, da tauchte im Norden ein Gestade auf. Ein Jüngling stand am Meeresstrand und hielt Ausschau. Panther erkannte ihn als seinen Bruder. Er stieg ans Land, sie reichten sich die Hände und weinten. Dann wandte er sich um, dem Oger, der ihn hergebracht, zu danken; doch der war schon verschwunden.
    Panther fragte nun nach Mutter und Schwester und erfuhr, dass es beiden gut gehe. Er wollte mit dem Bruder hingehen. Aber der Bruder hieß ihn warten und ging alleine hin. Nicht lange danach, so kam er mit Mutter und Schwester zusammen zurück. Als sie Panther sahen, weinten sie beide vor Rührung. Panther bat sie nun, ihn nach Annam zu begleiten.
    Aber die Mutter sprach: »Ich fürchte, wenn ich ginge, würden mich die Menschen wegen meiner Gestalt verspotten.«
    »Ich bin ein hoher Offizier,« antwortete Panther, »die Menschen werden nicht wagen, dich zu beleidigen.«
    So gingen sie denn alle zusammen mit ihm aufs Schiff. Ein günstiger Wind füllte die Segel, und pfeilgeschwind fuhren sie dahin. Am dritten Tage kamen sie ans Land. Die Menschen aber, die ihnen begegneten, liefen alle entsetzt davon. Panther zog seinen Mantel aus und teilte ihn unter die drei, damit sie sich bekleiden konnten.
    Als sie nach Hause kamen und die Alte ihren Mann wiedersah, da fiel sie mit vielen Scheltworten über ihn her, dass er ihr nichts davon gesagt habe, wie er heimgekehrt sei. Die Glieder der Familie, die nun herbei kamen, um die Frau des Hausherrn zu begrüßen, taten es alle unter Zittern und Beben. Panther aber empfahl seiner Mutter an, die Sprache des Mittelreichs zu lernen, sich in Seidenstoffe zu kleiden und an die menschliche Nahrung zu gewöhnen. Damit war sie sehr einverstanden; aber Mutter und Tochter ließen sich Männerkleidung machen. Bruder und Schwester wurden allmählich weißer im Gesicht und wurden den Menschen des Mittelreichs gleich. Den Bruder nannte man Leopard, die Schwester Ogerkind. Beide waren von großer Körperkraft.
    Panther aber war es nicht recht, dass sein Bruder so ungebildet war; darum ließ er ihn studieren. Leopard war sehr begabt. Beim ersten Durchlesen verstand er den Sinn der Bücher, doch hatte er keine Neigung zum Gelehrtenberuf. Schießen und Reiten war ihm das Liebste. So brachte er es in der kriegerischen Laufbahn sehr weit und heiratete schließlich die Tochter eines sehr angesehenen Beamten.
    Ogerkind aber fand lange keinen Mann, weil sich alle vor der Schwiegermutter fürchteten. Schließlich starb einem der Untergebenen ihres Bruders seine erste Frau. Der ließ sich dann bereit finden, Ogerkind zu heiraten. Sie konnte die stärksten Bogen spannen; hundert Schritt weit traf sie noch den kleinsten Vogel. Nie fiel ihr Pfeil zur Erde, ohne etwas getroffen zu haben. Wenn ihr Mann in die Schlacht zog, ging sie immer mit, und dass er es schließlich zum General brachte, war zum größten Teile ihr Verdienst.
    Leopard war mit dreißig Jahren schon Feldmarschall. Seine Mutter begleitete ihn auf seinen Kriegszügen. Nahte sich ein gefährlicher Feind, so zog sie die Rüstung an und nahm das Messer zur Hand, um ihm statt ihres Sohnes entgegenzutreten. Unter den Feinden, die sie trafen, war keiner, der nicht entsetzt die Flucht ergriffen hätte. Wegen ihres Mutes erhielt sie vom Kaiser den Titel »Überweib«.
    In den Geschichtenbüchern heißt es immer, die Oger seien selten. Doch wenn man sich’s genau überlegt, so sind sie gar nicht ungewöhnlich. Ein jeder Ehemann hat schließlich in seinem Hause solch ein Ogerchen.

76. Das geraubte Mädchen
    Im Westen der alten Hauptstadt Lo Yang lag ein verfallenes Kloster. Dort stand eine ungeheure Pagode, mehrere hundert Stockwerke hoch. Auf ihrer Spitze konnten noch immer drei bis vier Menschen stehen.
    In der Nähe wohnte ein schönes Mädchen; die saß eines Tages, als der Sommer heiß war, im Hofe, um sich zu kühlen. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, der das Mädchen entführte. Als sie die Augen öffnete, da war sie auf der Spitze der Pagode. Neben ihr stand ein junger Mann in der Tracht eines Scholaren.
    Der war gar hübsch und höflich und sprach zu ihr: »Wir sind vom Himmel füreinander bestimmt.«
    Darauf nahm er Brot und Wein und feierte mit ihr die Hochzeit. Seitdem war er tagsüber weg und kam abends zurück. Beim Weggehen schloss er mit Steinen die Öffnungen der Pagode. Auch hatte er einige Stufen der Treppe entfernt, so dass sie

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