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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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ihre Behausung nicht verlassen konnte. Wenn er heimkam, brachte er immer Wein und Speisen mit, die er mit dem Mädchen teilte. Auch Schminke und Puder, Kleider und Röcke und allerhand Schmucksachen schenkte er ihr. Er habe sie auf dem Markt gekauft, sagte er. Auch hängte er einen Karfunkelstein auf, so dass es auch bei Nacht ganz hell in der Pagode war. Das Mädchen hatte alles, was ihr Herz begehrte, und dennoch fühlte sie sich nicht wohl.
    Im Laufe der Monate war er vertraut mit ihr geworden, und als er eines Tages wegging, vergaß er, das Fenster zu schließen. Das Mädchen spähte ihm heimlich nach, da sah sie, wie ihr Jüngling sich in einen Oger verwandelte, die Haare rot wie Krapp, das Gesicht schwarz wie Kohle. Die Augäpfel quollen aus ihren Höhlen hervor, und der Mund glich einer Blutschüssel. Aus den Lippen drangen krumme Stoßzähne heraus, an den Schultern schossen zwei Flügel hervor. Damit flog er zur Erde und verwandelte sich dann wieder in einen Menschen.
    Das Mädchen ward von Entsetzen erfasst und brach in Tränen aus. Sie blickte von ihrer Pagode herunter; da sah sie unten einen Wanderer vorbeigehen. Sie rief ihn an; aber die Pagode war so hoch, dass die Stimme nicht bis unten drang. Sie winkte ihm mit der Hand; aber der Wanderer blickte nicht auf. Sie wußte sich nicht anders zu helfen, als dass sie ihre alten Kleider, die sie früher getragen, hinunterwarf. Sie flatterten durch die Luft zu Boden.
    Der Wanderer hob die Kleider auf. Dann sah er an der Pagode hinauf und entdeckte ganz droben auf der Spitze eine winzige Gestalt, die einem Mädchen glich; doch konnte er ihre Gesichtszüge nicht unterscheiden. Lange besann er sich vergebens. Dann ging ihm ein Licht auf.
    »Unsere Nachbarstochter«, sprach er bei sich selbst, »wurde ja von einem Zaubersturm entführt, sollte sie vielleicht da oben stehen?«
    Da nahm er die Kleider mit und zeigte sie den Eltern des Mädchens. Die Eltern brachen beim Anblick der Kleider in Tränen aus.
    Das Mädchen hatte aber einen Bruder, der war so stark und mutig wie niemand weit umher. Als der von der Geschichte hörte, nahm er eine schwere Axt zu sich und ging zu der Pagode. Dort versteckte er sich im Grase und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Als die Sonne eben untergegangen war, da kam ein Jüngling heran, der stampfte den Berg herauf. Plötzlich verwandelte er sich in einen Oger, breitete die Flügel aus und wollte fliegen. Da warf der Bruder seine Axt nach ihm und traf ihn an den Arm. Er stieß ein lautes Gebrüll aus, dann floh er in die westlichen Berge. Als der Bruder jedoch sah, dass die Pagode nicht zu ersteigen war, kehrte er zurück und verabredete sich mit einigen Nachbarn. Mit denen kam er am anderen Morgen wieder, und sie kletterten in der Pagode empor. Die meisten Treppenstufen waren noch ganz gut erhalten, nur den obersten Teil hatte der Oger zerstört. Mit einer Leiter konnte man jedoch hinauf gelangen, und der Bruder holte seine Schwester herunter und brachte sie glücklich nach Hause zurück. Seitdem hatte der Spuk ein Ende.

77. Der fliegende Oger
    In Sianfu lebte ein alter Buddhistenmönch, der liebte es, durch einsame Gegenden zu wandeln. Auf seinen Wanderungen kam er an den Kuku-Nor. Da sah er einen dürren Baum, der war tausend Fuß hoch und viele Klafter dick. Innen war er hohl, so dass man von oben das Licht des Himmels hinein scheinen sah.
    Er war einige Meilen weiter gegangen, da sah er von ferne ein Mädchen in rotem Rock, barfuß und mit entblößter Brust. Mit aufgelösten Haaren lief sie, schnell wie der Wind. Im Nu stand sie vor ihm.
    »Erbarme dich mein und rette mir das Leben!« redete sie ihn an. Als der Mönch sie fragte, was es gäbe, sprach sie: »Da ist ein Mensch, der mich verfolgt. Sage ihm, du habest mich nicht gesehen, so will ich dir mein Lebtag dankbar sein!« Damit lief sie auf den Baum zu und kroch hinein.
    Der Mönch ging abermals eine Strecke weiter. Da begegnete er einem, der ritt auf einem gepanzerten Pferd. Er trug ein goldenes Gewand. Auf dem Rücken hing ihm ein Bogen, an der Seite ein Schwert. Das Pferd rannte wie der Blitz, mit jedem Schritt kam es zwei Meilen weit vorwärts. Ob’s durch die Luft ging, ob auf dem Boden, das machte keinen Unterschied.
    »Hast du das Mädchen in dem roten Rock gesehen?« fragte ihn der Fremde. Und als der Mönch ihm sagte, er habe nichts gesehen, da fuhr er fort: »Bonze, du musst nicht lügen! Dieses Mädchen ist kein Mensch, sondern ein fliegender Oger.

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