Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
beiden Wesen redeten miteinander in tierischen Lauten. Sie rissen ihm die Kleider vom Leib und wollten ihn auffressen. Da nahm er eiligst aus seinem Sack Brot und Dörrfleisch hervor und bot es ihnen dar. Sie teilten es, aßen es auf, und es schien ihnen zu schmecken. Sie durchsuchten abermals seinen Sack; er aber winkte mit der Hand, um ihnen anzudeuten, dass er nichts mehr habe.
Dann sprach er: »Lasst mich los! Ich habe in meinem Schiffe Pfannen und Töpfe, Essig und Würzen. Damit kann ich euch Speisen kochen.«
Die Oger aber verstanden nicht, was er sagte, und waren immer noch böse. Da suchte er sich durch Zeichen mit der Hand verständlich zu machen, und schließlich schienen sie ein wenig zu verstehen. Er ging mit ihnen ans Schiff, holte sein Kochgeschirr in die Höhle, sammelte Reisig, zündete ein Feuer an und kochte die Überreste des Hirsches. Als es gar war, gab er ihnen davon zu essen. Die beiden Wesen fraßen mit großem Behagen. Darauf gingen sie zur Höhle hinaus und verschlossen die Öffnung mit einem großen Felsblock. In kurzer Zeit kamen sie wieder und hatten noch einen Hirsch gefangen. Der Kaufmann häutete ihn, holte frisches Wasser, wusch das Fleisch und kochte davon einige Kessel voll. Plötzlich kam eine ganze Herde von Ogern herbei, die fraßen das Gekochte auf. Darüber wurden sie recht munter. Alle deuteten auf den Kessel, der ihnen zu klein zu sein schien. Nach drei, vier Tagen brachte einer der Oger einen großen Kessel auf dem Rücken herbei geschleppt, der von nun an immer benützt wurde.
Jetzt drängten sich die Oger um den Kaufmann, brachten Wölfe und Hirschantilopen, die er für sie kochen musste, und wenn sie gar waren, so riefen sie ihm zu, dass er mit essen solle.
So vergingen einige Wochen, und sie wurden allmählich mit ihm vertraut, so dass sie ihn frei herumlaufen ließen. Der Kaufmann hörte mit der Zeit auf die Laute, die sie ausstießen und lernte sie verstehen. Ja, es dauerte nicht lange, da konnte er selber die Sprache der Oger reden. Darüber waren diese um so mehr erfreut. Sie brachten ein Weibchen her, das sollte der Kaufmann heiraten. Er aber fürchtete sich vor ihr und wagte sich nicht in ihre Nähe. Das Ogermädchen aber nahm ihn mit Gewalt zum Manne und hatte eine große Freude an ihm. Sie schenkte ihm Kostbarkeiten und Früchte, um ihn anzulocken, und sie gewannen einander lieb wie Mann und Frau.
Eines Tages standen alle Oger ganz frühe auf, und alle hatten sich um den Hals eine Kette von leuchtenden Perlen gehängt. Sie befahlen dem Kaufmann, recht viel Fleisch zu kochen. Der Kaufmann fragte seine Frau, was das bedeuten solle.
»Heute ist ein hohes Fest,« sagte sie, »wir haben den großen König zum Essen eingeladen.«
Zu den anderen Ogern aber sprach sie: »Der Kaufmann hat keine Perlenkette.«
Da gaben ihr alle Oger jeder fünf Perlen, und sie selbst tat zehn dazu, so dass er über fünfzig Perlen hatte. Die fasste sie an einem Faden auf und hängte sie ihm um den Hals. Jede einzelne dieser Perlen war mehrere hundert Lot Silber wert.
Der Kaufmann kochte nun das Fleisch; dann ging er mit der ganzen Herde zur Höhle hinaus, um den großen König zu empfangen. Sie kamen in eine weite Höhle; mitten darin lag ein großer Felsblock, der war glatt und eben wie ein Tisch. Ringsum standen steinerne Sitzplätze. Der Ehrenplatz war mit einem Leopardenfell bedeckt, die übrigen alle mit Hirschfellen. Mehrere Dutzend der Oger saßen in Reih und Glied in der Höhle.
Plötzlich erhob sich ein großer Sturm, der den Staub aufwirbelte, und ein Ungeheuer kam herbei, das in seiner Gestalt den Ogern glich. Die Oger kamen alle in großer Aufregung heraus, ihn zu empfangen. Der große König lief in die Höhle hinein, setzte sich mit gespreizten Beinen nieder und blickte mit runden Adleraugen um sich. Die ganze Herde folgte ihm dann in die Höhle. Sie stellten sich zu seinen beiden Seiten, blickten zu ihm empor und legten die Arme auf der Brust in Form eines Kreuzes zusammen, auf diese Weise ihm ihre Ehrfurcht bezeugend.
Der große König nickte mit dem Haupt, blickte sie an und fragte: »Sind von dem Wo-Me-Berge alle da?«
Die ganze Herde bejahte es. Dann erblickte er den Kaufmann und fragte: »Und woher kommt der?«
Seine Frau antwortete für ihn, und alle erwähnten mit Lob seine Kochkunst. Ein paar von den Ogern brachten gekochtes Fleisch herbei und breiteten es auf dem Tische aus. Der große König fraß sich satt daran und lobte ihn dann mit vollem Munde
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