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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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Unerträgliche steigerten, so dass er bewußtlos zu Boden fiel. Eilig hängte ihn nun seine Frau mit den Füßen nach oben und dem Kopf nach unten am Balken der Zimmerdecke auf und stellte eine Kohlenpfanne mit glühenden Kohlen unter seinen Leib und ein großes Gefäß mit Wasser, in das sie Sesamöl gegossen, vor das Feuer, gerade unter seinen Mund. Als nun das Feuer ihm tüchtig den Leib erwärmte, da gab es in seinem Innern ein donnerähnliches Geräusch, er öffnete den Mund und begann, sich heftig zu erbrechen. Und was für Sachen kamen da heraus! Durcheinander wühlten sich giftige Würmer, Tausendfüßler, Kröten und Kaulquappen hervor, die alle in dem Gefäß mit Wasser untertauchten. Darauf band sie ihn wieder los, trug ihn ins Bett und gab ihm Wein mit Realgar zu trinken. Da ward ihm wieder besser.
    »Was du gegessen hast als Garnelen und Krebse«, sprach die Frau zu ihm, »das waren alles Kröten und Kaulquappen, und die Geburtstagsnudeln waren giftige Würmer und Tausendfüßler. Aber noch gilt’s vorsichtig zu sein! Die Eltern wissen, dass du nicht gestorben bist, sie werden sicher andere Ränke schmieden.«
    Nach einigen Tagen sprach der Schwiegervater zu ihm: »Am Felshang vor der Höhle, da wächst ein großer Baum. Dort ist ein Phönixnest. Du bist noch jung und kannst klettern. Geh rasch dorthin und hole mir die Eier!«
    Der Eidam ging nach Hause und sagte es seiner Frau.
    »Nimm lange Bambusstangen«, sprach sie, »und binde sie zusammen, und oben dran musst du ein Sichelschwert befestigen. Ich gebe dir hier neun Brote und sieben mal sieben Hühnereier. Die nimmst du in einem Korbe mit. Wenn du an jene Stelle kommst, so wirst du oben in den Zweigen ein großes Nest erblicken. Klettere nicht auf den Baum, sondern schlage es mit dem Sichelschwert herunter! Dann wirf die Stange weg und laufe, was du kannst! Wenn dann ein Ungetüm herankommt und dir folgt, so wirf die Brote nach ihm, drei jedesmal, zum Schlusse wirf die Eier auf die Erde und komm, so rasch du kannst, nach Hause! So magst du der Gefahr entgehen.«
    Der Mann merkte sich alles genau und ging hin. Und richtig sah er da ein Vogelnest — groß wie ein runder Pavillon. Da band er sein Sichelschwert an die Stange und schlug es mit aller Kraft herunter. Dann legte er die Stange auf die Erde, sah sich nicht um und lief. Plötzlich hörte er das Brüllen eines Donnersturms, das sich über seinem Haupte erhob. Als er aufblickte, da sah er einen großen Lindwurm, der war wohl viele Klafter lang und hatte an zehn Fuß im Umfang. Die Augen blitzten wie zwei Lampen und aus dem Rachen spie er Feuer und Flammen. Er streckte zwei Fühler tastend nach unten. Da warf der Mann rasch die Brote in die Luft. Der Lindwurm fing sie auf, und es dauerte eine Weile, bis er sie gefressen hatte. Aber kaum war er ein paar Schritte von ihm weg, da kam der Lindwurm wieder hinter ihm hergeflogen. Da warf er wieder nach ihm mit den Broten, und als die Brote dann zu Ende waren, da leerte er den Korb um, dass die Eier auf die Erde rollten. Der Lindwurm hatte noch nicht satt gefressen und sperrte weit den hungrigen Rachen auf. Als er nun plötzlich die Eier sah, da ließ er sich herab, und weil die Eier ringsumher zerstreut lagen, so dauerte es eine Zeitlang, bis er sie alle ausgesogen hatte. Unterdessen gelang es dem Manne, nach Hause zu entkommen.
    Als er ins Zimmer trat und seine Frau sah, da sprach er schluchzend zu ihr: »Mit knapper Not bin ich davongekommen, dass ich dem Wurm nicht seinen Bauch gefüllt. Wenn das so unaufhörlich weitergeht, so ist es noch mein Tod.«
    Mit diesen Worten kniete er nieder und bat die Frau flehentlich, ihm das Leben zu retten.
    »Wo ist denn deine Heimat?« sprach da die Frau zu ihm.
    »Meine Heimat ist von hier wohl hundert Meilen weit im Land der Mitte. Es lebt mir noch eine alte Mutter. Es macht mir nur zu schaffen, dass wir so arm sind.«
    Die Frau sprach: »Ich will mit dir entfliehen und deine Mutter suchen. Sei nicht traurig über deine Armut!«
    Damit nahm sie, was an Perlen und Edelsteinen im Haus vorhanden war, tat es in einen Sack und ließ dem Mann ihn um die Lenden binden. Dann gab sie ihm noch einen Regenschirm, und tief in der Nacht überstiegen sie die Mauer auf einer Leiter und gingen weg.
    Sie sagte noch zu ihm: »Nimm den Regenschirm auf den Rücken und laufe so rasch du kannst! Öffne ihn nicht und sieh dich auch nicht um! Ich will dir im Verborgenen folgen.«
    So wandte er sich nach Norden und lief aus

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