Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
beieinander und wußten nicht, was sagen. Das Mädchen saß abseits, den Kopf auf die Hände gestützt, und seufzte unaufhörlich schwer und tief. Der junge Mann war müde von der Reise und schlief bald ein. Beim ersten Hahnenrufe wachte er wieder auf und sah das Mädchen noch immer abseits sitzen.
»Es ist schon spät, die Nacht ist kalt«, sagte er. »Willst du dich nicht zur Ruhe legen?«
Das Mädchen errötete beschämt und sagte unter Tränen: »Das ist eine schlimme Ehe. Ihr müsst kein Mitleid mit mir haben.«
Dann erzählte sie ihm alles, wie es sich verhielt, und fügte noch hinzu: »Wie ich Euch sah, so jung und schön, da konnte ich es nicht ertragen, Euch den Tod zu bringen. Lieber will ich selber sterben.«
Sie fragte noch nach seinem Namen und Wohnort, alles ganz genau. Als der Tag zu dämmern anfing, gab sie ihm Geld und drängte ihn zu gehen. Und so kehrte er wieder heim.
Nach ungefähr zwei Jahren ward das Mädchen krank an Aussatz. Die Eltern wurden böse und stießen sie zur Tür hinaus.
Das Mädchen dachte: »Ich will den jungen Mann noch einmal sehen, dann will ich sterben.«
So trug sie ihre Krankheit und trat die Wanderung an. Bei Tage erbettelte sie Nahrung in Dörfern und Weilern, bei Nacht suchte sie Ruhe in Höhlen und Klüften. Sie kletterte über die Berge und watete durch die Flüsse. Mühselig schleppte sie sich wochenlang dahin. Da kam sie nach Kuilin. Sie suchte das Haus des jungen Mannes, rief seinen Namen und begehrte, ihn zu sehen. Der Torwart wies sie scheltend fort. Da brach sie schluchzend vor der Tür zusammen.
Als der junge Mann damals nach Hause gekommen war, hatte er sich mit großem Eifer ans Lernen gemacht und hatte auch schon die erste Prüfung bestanden. Zu jener Zeit hatten die Eltern eben einen Glückstag ausgewählt zur Heirat. Am anderen Tage sollte Hochzeit sein. Verwandte und Bekannte hatten sich versammelt, um bei dem Fest zu helfen. Der Vater hatte für die Gäste ein Festmahl zugerichtet.
Als nun der junge Mann sich eben mit zu Tische setzte, da hörte er vor der Türe Lärm und Rufen. Er ging hinaus zu sehen, was es wäre. Da saß das Mädchen da, das ganze Gesicht voll Eiterbeulen, die eben am Aufbrechen waren, die Augenbrauen kahl, die Nase eingefallen, die Lippen aufgesprungen und die Stimme heiser. Erschrocken sah er sie an, doch erkannte er sie nicht.
Das Mädchen sprach: »Gedenkt Ihr nicht mehr an die Zeit vor zwei Jahren, da Ihr in unserem Hause weiltet? Jetzt ist die Krankheit bei mir ausgebrochen, und die Eltern haben mich verstoßen. Nun ich Euch noch einmal gesehen habe, sterbe ich gerne.«
Da kam auf einmal die Erinnerung an die Vergangenheit über ihn, und unter Tränen sagte er zu ihr: »Ihr wart wie eine Blume so schön, und nun ist das aus Euch geworden! Immerhin, Ihr habt mir große Güte angetan, und ich schwöre, dass ich Euch nicht verlassen will.« So nahm er denn das Mädchen bei der Hand und stieg mit ihr zum Saal empor, die Eltern zu begrüßen und die Verwandten alle.
Dann kniete er nieder, bat ums Wort und sprach: »Hätt’ ich dies Mädchen nicht getroffen, war ich wohl schon längst in einem Graben verendet. Unser Glück von heute ist alles ihr Geschenk.«
Hochherzig sprach der Vater: »Auch sie sei meines Sohnes Frau! Wenn morgen Hochzeit ist, soll sie doppelt gefeiert werden. Die beiden sollen Schwestern heißen, keine sei Hauptfrau, keine Nebenfrau!«
Die Freunde und Verwandten waren alle einverstanden und schenkten Wein ein, um ihm Glück zu wünschen, und das ganze Gespräch bei Tische war über dieses Mädchens Tugend.
Das Mädchen aber neigte sich tief und sprach unter Tränen: »Ich bin mit übler Krankheit behaftet und werde heute oder morgen sterben. Wie hielt ich’s aus, Genossin diesem Herrn zu sein und Hochzeitsfest mit ihm zu feiern? Ich bitte nur, dass man mir einen Raum gewähre, wo ich in Ruhe sterben kann.«
Der Vater blickte heimlich auf das Mädchen und sah, dass ihre Krankheit wirklich übel war, dass sie sich nicht zur Hochzeitsfeier schicke. So ließ er denn im hinteren Hofe ihr ein Zimmer bereiten, daselbst zu wohnen. Eine Magd kehrte den Boden, führte sie hinein und breitete Decken und Kissen auf dem Lager aus.
Das Zimmer war für gewöhnlich als Weinkammer benützt. Rings an den Wänden und in den Ecken standen Weinkrüge umher. Das Mädchen befragte die Magd.
Die sprach: »Das ist guter, alter Wein, wenn Ihr durstig seid, mögt Ihr Euch gütlich daran tun.«
Am anderen Tage feierte
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