Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Leibeskräften. Einen Tag und eine Nacht war er gelaufen, wohl hundert Meilen weit, und hatte schon der Wilden Grenze überschritten, da ermatteten ihm die Beine und er ward hungrig. Vor ihm lag ein Bergdorf. Er blieb am Eingang dieses Dorfes stehen, um zu ruhen, holte etwas Wegzehrung aus der Tasche und aß. Er blickte sich um, ohne seine Frau zu sehen.
Da sprach er bei sich selbst: »Am Ende hat sie dich betrogen und kommt gar nicht.«
Als er fertig gegessen hatte, nahm er noch einen Trank aus einer Quelle, dann schleppte er sich mühsam weiter. Wie der Tag eben am heißesten war, da brach plötzlich ein heftiger Bergregen los. In der Eile vergaß er, was die Frau ihm anbefohlen hatte und öffnete den Schirm zum Schutze vor dem Regen. Da fiel seine Frau aus dem Schirm heraus, ganz nackt, auf die Erde.
Sie machte ihm Vorwürfe: »Du hast wieder nicht auf mich gehört. Nun ist das Unheil da!«
Rasch hieß sie ihn nach dem Dorfe gehen, um einen weißen Hahn, sieben schwarze Tassen und ein halbes Stück von rotem Nesseltuch zu kaufen.
»Spare die Silberstücke in der Tasche nicht!« rief sie ihm noch nach.
Er ging ins Dorf, besorgte alles und kam wieder zurück. Die Frau zerriß das Tuch, machte einen Rock daraus und zog ihn an. Kaum waren sie einige Meilen gegangen, da sah man im Süden eine rote Wolke heraufkommen, rasch wie ein fliegender Vogel.
»Das ist meine Mutter«, sagte die Frau.
Im Augenblick war sie auch schon zu ihren Häupten. Da nahm sie die schwarzen Tassen und warf nach ihr. Sieben warf sie, und sieben fielen herunter. Da hörte man die Mutter in der Wolke weinen und schelten, dann verschwand sie wieder.
Wieder gingen sie etwa vier Stunden lang. Da hörten sie hinter sich einen Ton, wie wenn man Seide reißt, und schon sahen sie eine Wolke, schwarz wie Tusche, die dem Wind entgegen herankam.
»Wehe, das ist mein Vater!« sagte die Frau. »Da geht’s auf Leben und Tod. Der läßt nicht von uns ab. Aus Liebe zu dir muss ich nun die heiligsten Gebote verletzen.«
Mit diesen Worten nahm sie rasch den weißen Hahn, riss ihm den Kopf ab und warf ihn in die Luft. Da zerfloß die schwarze Wolke, und ihres Vaters Leichnam fiel, getrennt von seinem Kopfe, am Rand der Straße nieder. Da weinte die Frau bitterlich, und als sie ausgeweint hatte, begruben sie den Leichnam. Dann gingen sie zusammen weiter nach der Heimat des Mannes. Dort trafen sie die alte Mutter noch am Leben. Sie nahmen nun ihre Perlen und Kostbarkeiten hervor, kauften ein gutes Stück Land, bauten ein schönes Haus und wurden reich und angesehen in der ganzen Gegend.
80. Das treue Mädchen
Unter den Wilden im Süden gibt es sehr viele Stämme. Da gibt es die Hui, die Li, die Yau, die Babesifu und viele andere. In Kuangsi haben sie dreiundachtzig Niederlassungen. Die stärksten aber sind die Li. Unter ihnen nun herrscht die Sitte, dass, wenn ein Mädchen mannbar wird, man für sie immer erst einen vorläufigen Ehemann ins Haus nimmt. Nach ein paar Monaten bekommt der Mann dann Aussatz oder sonst einen üblen Ausschlag, und man schickt ihn weg. Dann erst wird mit einer angesehenen Familie desselben Stammes eine eigentliche Ehe vereinbart. Das nennt man: den Aussatz übertragen. Wenn das nicht geschieht, so wird das Mädchen selber krank. Darum ist es nicht möglich, für ein Mädchen, das ihren Aussatz noch nicht auf diese Weise übertragen hat, einen richtigen Ehemann zu finden.
Es war einmal ein junger Mann in Kuilin. Der stammte aus einer reichen Familie. Da jedoch sein Lehrer ihm allzu strenge auf die Finger sah und auch sein Vater ihn zu Zeiten strafte, hielt er es nicht länger aus und lief von zu Hause fort. Er verirrte sich und kam in eine Niederlassung von Wilden und bat um Essen. Da war ein alter Mann, der hatte Mitleid mit dem Jungen, rief ihn nach seinem Hause und gab ihm reichlich Wein und Speise. Dann sprach er zu ihm: »Ihr scheint mir nicht so ein gewöhnlicher Landstreicher zu sein. Ich habe eine Tochter, die wartet gerade auf einen Mann, die würd’ ich gern zur Frau Euch geben.«
Der junge Mann bedachte zwar bei sich, dass er zu Hause eine Braut schon habe. Doch in seiner Not dem Hunger und der Kälte gegenüber sprach er zu allem ja. Der Alte rief nun das ganze Haus zusammen. Ein Brautgemach ward hergerichtet und der junge Mann hinein geführt. Die Braut war auch schon drin. Sie war ausnehmend schön und schien ein gutes Mädchen.
Die Nacht war still und alles schon zur Ruhe. Die beiden saßen verlegen
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