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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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klar und deutlich ein hübsches Mädchen. Wie sollte sie mir Unheil bringen! Ich denke, der Priester hat wohl sich durch Beschwörungen ein bisschen Geld erjagen wollen.«
    So kam er an das Tor seines Hauses. Es war von innen verriegelt, man konnte nicht hinein. Er fragte sich, wer es wohl getan habe. Dann stieg er über die Mauer. Aber auch die Zimmertür war verschlossen. Da schlich er sich ans Fenster und spähte hinein. Er erblickte einen greulichen Teufel, blaugrün im Gesicht, dem die Zähne wie eine Säge im Maule standen. Der hatte eine Menschenhaut auf dem Bett ausgebreitet und einen Pinsel mit Farbe in der Hand, mit dem er sie bemalte. Als er fertig war, warf er den Pinsel hin, nahm die Haut auf wie ein Kleidungsstück und zog sie an. Da verwandelte er sich in das Mädchen.
    Der junge Mann, der diesen Vorgang sah, geriet in große Furcht und kroch auf allen vieren zum Hofe hinaus.
    Eiligst suchte er nach dem Priester. Niemand wußte, wo er hingegangen. Er folgte allenthalben seinen Spuren, da traf er ihn endlich auf dem Feld. Er warf sich vor ihm nieder und flehte ihn um Rettung an.
    Der Priester sprach: »Wir wollen sie vertreiben. Dieses Wesen ist auch in rechter Not. Eben ist sie im Begriff, einen Stellvertreter zu finden, und ich bringe es nicht über mich, ihr Leben zu verletzen.«
    Damit gab er ihm seinen Zauberwedel und befahl, ihn an der Tür des Zimmers aufzuhängen. Beim Abschied bestimmte er ein Wiedersehen im Tempel des grünen Herrn.
    Der junge Mann kam heim. Er wagte sich nicht in das Studierzimmer, sondern schlief im inneren Zimmer. Den Zauberwedel hängte er auf.
    Es mochte wohl um die erste Nachtwache sein, da hörte man vor der Tür ein klirrendes Geräusch. Er selbst getraute sich nicht nachzusehen, sondern schickte seine Frau. Die sah das Mädchen kommen. Als es aber den Wedel erblickte, wagte es nicht einzutreten, sondern blieb stehen und knirschte mit den Zähnen. Es dauerte lang, dann ging es.
    Nach einer kleinen Zeit kam es wieder und schalt: »Der Priester will mir bange machen, aber ich lass mir’s nicht gefallen. Lieber will ich ihn erst mal fressen und ihn nachher wieder ausspucken.«
    Es nahm den Wedel und zerbrach ihn. Dann schlug es die Tür ein und kam. Geradewegs ging es nach dem Bett des Mannes, riss ihm den Leib auf, packte sein Herz und verschwand.
    Die Frau rief der Dienerin. Man machte Licht; aber der Mann war schon tot. Das Blut quoll ihm wild aus der Brust. Die Frau war entsetzt und schluchzte leise. Am anderen Morgen schickte sie den Bruder ihres Mannes, um den Priester zu benachrichtigen.
    Der Priester war ergrimmt. »Ich habe Mitleid mit ihr gehabt, und nun ist der Teufel von solch einer Frechheit!« Mit diesen Worten folgte er dem Bruder in das Haus. Das Mädchen war verschwunden. Der Priester hob den Kopf und blickte sich nach allen Seiten um.
    »Zum Glück ist sie noch nicht weit«, sprach er. »Wer wohnt denn in dem Südhof?«
    Der Bruder sprach: »Es ist meine Wohnung.«
    »Dort ist sie jetzt«, sagte der Priester.
    Der Bruder war erstaunt; denn er wußte nichts davon.
    Der Priester fragte: »Ist nicht jemand Fremdes zu Euch gekommen?«
    »Ich war eben im Tempel, um Euch zu suchen, ich weiß es nicht. Ich muss erst gehen und fragen.«
    Nach einer Weile kam er zurück: »Richtig ist jemand dort. Heute morgen kam ein altes Weib und suchte eine Stellung als Magd für unsere Diener. Die Leute haben sie behalten, und sie ist noch da.«
    »Das ist sie«, sagte der Priester.
    Dann ging er mit hinüber, ergriff ein hölzernes Schwert, stellte sich in die Mitte des Hofes und rief: »Teufelsbrut, gib mir meinen Wedel wieder!«
    Die Magd im Zimmer wurde aufgeregt und erblasste. Sie kam zur Tür heraus und wollte entfliehen. Da schlug der Priester nach ihr. Die Magd fiel hin. Die Menschenhaut löste sich spröde von ihr ab, und sie verwandelte sich in einen Teufel, der grunzend wie ein Schwein am Boden sich wälzte. Der Priester schlug ihm mit dem Holzschwert den Kopf ab. Da verwandelte sich die Gestalt in einen dicken Rauch, der in dichten Schwaden am Boden aufwirbelte. Der Priester zog eine Melonenflasche hervor, öffnete sie und stellte sie mitten in den Rauch. Der geriet in wogende Bewegung, und wie man mit dem Mund die Luft einzieht, war im Augenblick der Rauch in der Flasche verschwunden. Der Priester schloss sie wieder und steckte sie in seine Tasche. Alle betrachteten die Menschenhaut: Augenbrauen, Augen, Hände und Füße, alles war vollständig und deutlich

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