Märchen, Der Falke unter dem Hut ab 9 Jahre
Amtsgeschäfte zu richten und abzuurteilen gäbe.
Der Mandarin berichtete von dem Vergehen des Schneiders, den das Volk zu Unrecht den weisen nenne. Dabei wies er auf das neue Staatsgewand, das zwar außerordentlich schön, jedoch ungleich zugeschnitten und damit verdorben sei. Der Kaiser bewunderte insgeheim die hervorragende Arbeit und den Geschmack des einfachen Mannes und forderte ihn auf, sich zu verteidigen.
Der Schneider verneigte sich, wandte sich dann an den Mandarin und sagte ehrerbietig: „Verzeiht, hoher Herr, ich muß Euch widersprechen. Das Gewand ist nicht verschnitten. Entsinnt Euch: Vor Beginn meiner Arbeit bat ich Euch, mir Euer Alter sowie die Zeit Eures kaiserlichen Dienstes zu nennen. Ihr sagtet sie mir zwar nicht, doch ich habe sie in Erfahrung gebracht.“
Der Kaiser wunderte sich. „Was kann wohl die Amtszeit eines meiner Beamten mit seinem Rockschnitt zu tun haben?“
„Oh, mehr, als man vermutet“, antwortete der Schneider beherzt. „Erlaubt mir, höchster Gebieter, daß ich, auf solche Weise befragt, mich rechtfertige!“
„Sprich ohne Scheu“, sagte der Kaiser. „Wenn deine Erklärung mich überzeugt, so wird dir nichts geschehen.“
Und der Meister sprach: „Jeder Schneider kann seine Arbeit besser ausführen, wenn er über den Charakter des Menschen, für den er arbeitet, nachgedacht hat. Ein junger Mensch geht aufrecht und gerade. Das ist keine neue Weisheit. Ein junger Würdenträger aber, stolz auf sein hohes Amt und von sich eingenommen, geht um vieles aufrechter. Er reckt seine Brust heraus und trägt den Kopf so hoch wie möglich. Wenn der Schneider Alter und Charakter seines Auftraggebers kennt, muß er ihm da nicht den Rock vorn etwas länger schneiden als hinten?“
Der Schneider sah, daß sich das Gesicht des Mandarins mit flammender Röte überzog, doch er bemerkte auch, daß ihm der Kaiser wohlwollend und sogar vergnügt zuhörte. So fuhr er fort: „Steht der Würdenträger in der Mitte seiner Jahre, hat er erfahren, daß ihm Stolz und Hochmut keine Freunde eingebracht haben, so mäßigt sich auch seine Haltung. Würdevoll setzt er zwar immer noch seine Schritte, doch spart er sich jetzt die Mühe, die Brust besonders vorzurecken. Sein Schneider kann ihm also das Gewand hinten und vorn gleich lang zuschneiden.
Im Alter jedoch ermüdet der Mensch, auch der Mandarin. Er hat gelernt, daß hohe Aufgaben sich nicht schnell und leicht bewältigen lassen. Ist er weise geworden, so neigt er sich gern dem zu, der einen guten Rat geben kann. Hat sein Charakter sich nicht gewandelt, so neigt er sein Ohr den Schmeichlern und Heuchlern zu. Und ob weise oder nicht, seine Amtszeit hat ihn gelehrt, daß er sich täglich vor einem Höheren beugen muß. Jetzt wird ihm der Schneider das Gewand hinten länger zuschneiden. Darum, o Kaiser, frage ich nach Alter und Dienstzeit der hohen Herren. Wie könnte ich sonst zu ihrer Zufriedenheit arbeiten?“
Der Kaiser, nicht nur erstaunt über die Lebensweisheit des Schneiders, sondern auch darüber, daß er den Hochmütigen so klug belehrt hatte, nickte dem Schneider freundlich zu. Von einer Ausweisung war keine Rede mehr. Im Gegenteil! Am nächsten Tage ließ er den Mann, der seine Schneiderkunst so gut meisterte, zu seinem Kaiserlichen Hofschneider ernennen.
Tam aber hatte das Nachsehen. Ärger und Mißgunst nagten so an ihm, daß er bald darauf die Stadt verließ.
Das Volk von Hanoi erzählte sich diese Geschichte mit größtem Vergnügen, und als einige Zeit später der hochmütige junge Mandarin als Oberster Richter abberufen wurde, sagte man: „Das verdanken wir unserem weisen Schneider, der hat ihm das richtige Maß genommen!“ Ilse Korn
Meister Ali oder die Gewalt der Töne
Ein Märchen aus Kasachstan
Vor vielen Jahren, als grausame Khane das Leben der Menschen bedrückten, lebte in Kasachstan ein Fürst, der so böse war, daß seine letzten Freunde es nicht mehr am Hofe aushielten. Seine nächsten Diener ließ er ohne Erbarmen für ein kleines Vergehen hinrichten. Die Menschen fürchteten sich, seinen Namen auszusprechen, und wenn er ausritt, flohen die Untertanen in ihre Behausungen oder in die Steppe und verbargen sich, um ihm nicht vor die Augen zu kommen. Die Frau des Khans war schon lange vor Gram gestorben.
Das einzige Lebewesen, das der hartherzige Mann liebte, war sein Sohn Hussein, ein Jüngling von großer Schönheit und hellem Verstand. Hussein war liebenswert, er besaß viele Freunde, galoppierte
Weitere Kostenlose Bücher