Märchen, Der Falke unter dem Hut ab 9 Jahre
Kamele mit der kostbaren Last seinem Hause zu.
Ilse Korn
Der weise Schneider
Ein Märchen aus Vietnam
Vor Zeiten lebte in der Stadt Hanoi ein Schneider, der war beim Volke beliebt und verehrt. Er hatte nicht nur für die Ärmsten jedes Kleidungsstück gewissenhaft zugeschnitten und sorgsam genäht, sondern vielen von ihnen mit gutem Rat weitergeholfen. Die wohlhabenden Kaufleute und sogar einige kaiserliche Hofbeamte ließen gern bei ihm arbeiten, denn noch niemand hatte Grund zur Klage gehabt.
Nun lebte in seiner Nachbarschaft der Schneider Tam, der sich schon seit langem vergeblich bemühte, Kaiserlicher Hof Schneider zu werden. Voller Neid und Mißgunst sah er, wie nach und nach sogar die höchsten Würdenträger das Haus des beliebten Schneiders aufsuchten.
Seit kurzem sprach man in der Stadt von der Ernennung eines kaiserlichen Würdenträgers zum Obersten Richter. Der Mandarin war unnachsichtig, hochmütig und hartherzig. Es hatte sich bald herumgesprochen, daß dieser Richter jedes, auch das kleinste Vergehen bestrafte. Darum wurde er von arm und reich gefürchtet.
Der mißgünstige Tam hatte bemerkt, daß der junge Mandarin gern kostbare und reichverzierte Kleider trug. So ging er eines Tages zu ihm und bot ihm seine Dienste an. Als der Mandarin den Namen des Schneiders vernahm, zuckte er nur die Achseln. Er sah verächtlich über ihn hinweg und gab zu verstehen, daß er nur bei dem berühmten Schneider nähen lassen werde, der noch nie ein Gewand verdorben habe.
Jetzt schien für Tam die Gelegenheit gekommen, seinen verhaßten Nachbarn zu Fall zu bringen. Ehrerbietig verneigte er sich und sprach: „O Herr, in Hanoi gibt es viele Schneider, die gewissenhaft und fehlerlos arbeiten. Aber keiner versteht es so ausgezeichnet, die Gewänder dem Charakter ihrer Besteller anzupassen, wie jener, den das Volk den weisen Schneider nennt. Keinen entläßt er, ohne ihm eine Lehre mitzugeben. Er ist so von sich eingenommen, daß er behauptet, ein Kleid, welches er genäht habe, passe dem Menschen ebenso wie die eigene Haut.“
Der junge Mandarin runzelte die Stirn, dann beschloß er, den weisen Schneider auf die Probe zu stellen. Er übergab ihm einen kostbaren Brokatstoff und forderte ihn auf, daraus in kürzester Frist ein Staatsgewand zu schneidern.
„Ich will sehen, ob es stimmt, was das Volk von dir erzählt“, sagte der Mandarin. „Doch wenn ich an dem Gewand irgendeinen Fehler entdecke, bist du die längste Zeit in dieser Stadt Schneider gewesen. Arbeitest du zu meiner Zufriedenheit, so darfst du weiterhin deinem Gewerbe nachgehen und erhältst einen angemessenen Lohn.“
Als der Schneider Maß genommen hatte, bat er den Mandarin, er möge ihm sein Alter und auch die Dauer seiner Dienstzeit als kaiserlicher Beamter nennen. „Was haben mein Alter und die Dauer meiner Amtszeit mit meinem Rockschnitt zu tun?“ fuhr der Mandarin den Schneider barsch an und ließ ihn stehen.
Der Schneider lächelte, nahm den Stoff und verließ das Haus des Mandarins. Er machte sich sogleich an die Arbeit, verrichtete sie so gewissenhaft wie immer, auch wählte er für Besatz und Futter die schönste Atlasseide, die er bekommen konnte, und stickte eigenhändig mit feinstem Goldfaden den goldenen Phönix, der die Vorderseite der Staatsgewänder schmückte, darauf. Zur festgesetzten Zeit war das Gewand fertig, ein Wunderwerk der Schneiderkunst.
Der Mandarin zog es an, betrachtete sich wohlgefällig von allen Seiten, zugleich aber ärgerte er sich, daß er nicht den kleinsten Fehler entdecken konnte. Nachdem der Schneider gegangen war, überprüfte der Mandarin jede Naht, auch die Stickerei, doch es gab nichts daran auszusetzen.
Als er am Abend das Gewand noch einmal musterte, entdeckte er, daß die Vorderseite länger geschnitten war als die Rückenbahn. Alsbald befahl er den Schneider zu sich und sagte mit beißendem Spott: „Man rühmt deine Kunst zu Unrecht. Meinen Augen entgeht nichts. Du hast nicht sorgfältig gearbeitet“, und dabei wies er auf die zu lang geschnittene Vorderbahn. Noch bevor der Schneider ein Wort zu seiner Rechtfertigung sagen konnte, verkündete der Mandarin mit unbeherrschter Stimme: „Du hast das Recht, in dieser Stadt als Schneider zu arbeiten, verwirkt. Morgen früh wird man dich ausweisen.“
In diesem Augenblick betrat der Kaiser, der jeden Abend einen kleinen Spaziergang durch den Park machte, das Haus seines Mandarins. Er war neugierig, was es zu so später Stunde außerhalb der
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