Märchen, Der Falke unter dem Hut ab 9 Jahre
tausend Goldstücke in den Krug legtest? Und wer weiß, ob du in Wahrheit soviel besessen hast?“
„Ich veräußerte vor meiner Abreise nach Mekka all mein Hab und Gut“, sagte Ali Chodschah. „Das dafür eingenommene Gold legte ich in den Krug. Allah allein ist mein Zeuge. Dieser Kaufmann war mein einziger Freund über viele Jahre. Ich kannte ihn gut und konnte nicht vermuten, daß er sich als unehrenhaft erweisen würde.“
Nun ließ der Kadi den angesehenen und ihm wohlbekannten Kaufmann die Sache darlegen, der zu seiner Verteidigung nichts anderes vorbrachte, als was er schon vor den Ohren der Leute zu Ali gesagt hatte. Doch war er sofort bereit, seine Aussagen unter Eid zu machen, und rief: „Ich schwöre bei dem allmächtigen Gott - und es gibt keinen außer Allah -, daß ich nichts weiß von irgendwelchen Goldstücken, die Ali Chodschah gehören sollen. Ich schwöre, daß der Krug sieben Jahre in meinem Speicher gestanden hat, den nur ich betreten kann.“
Daraufhin sprach ihn der Richter frei und wies Ali Chodschahs Klage ab. Der dachte bei sich: Wehe, was für ein Richter! Ohne den Fall zu prüfen, spricht er das Urteil. Ich habe nun alles verloren, mein Gold, meinen guten Namen und damit auch meine Vaterstadt. Mir kann nur noch einer helfen.
Als der Kalif Harun al Raschid nach der Stunde des Freitaggebetes aus der großen Moschee trat, warf sich Ali Chodschah vor ihm zu Boden und hielt eine Bittschrift empor. Sie wurde ihm abgenommen, der Kalif warf einen Blick auf die Zeilen, nickte und ließ Ali Chodschah sagen, er möge sich am folgenden Tage zur Stunde der Audienz in seiner Halle einfinden, er wolle persönlich den Fall untersuchen.
Am Abend dieses ungewöhnlichen Tages machte Harun al Raschid mit seinem Großwesir Dschafar einen seiner Spaziergänge durch die Gassen Bagdads. Zu diesem Zwecke verkleideten sich beide, um besser sehen und hören zu können, was das Volk tat und was es sprach.
Unweit eines offenen Platzes hinter dem Basar befand sich ein unvermieteter Laden, aus dem Lärm und Geschrei drang. Der Kalif und sein Begleiter traten näher, verbargen sich hinter einer Bretterwand und erblickten eine Anzahl halbwüchsiger Knaben bei lebhaftem Spiel. Es waren aufgeweckte Burschen, gewandt und witzig, und der Kalif spürte ein Verlangen, ihnen eine Weile zuzuschauen. Da vernahm er einen Namen, der ihm bekannt vorkam. Das älteste der Kinder hatte ihn ausgesprochen: „Ich denke, wir sollten heute Kadi spielen, den Fall Ali Chodschah mit seinem Olivenkrug. Ich will wie immer der Richter sein!“
Alle waren einverstanden.
„Wer von euch übernimmt die Rolle des Ali?“
Mit lautem Geschrei meldeten sich alle.
„Das verstehe ich nicht“, sagte der Knabe. „Hat man ihn nicht für schuldig befunden? Wer will denn gern den Schuldigen spielen?“
„Wir glauben es nicht“, riefen die Knaben wild durcheinander.
„Sein Gesicht war voller Trauer und Kummer. So sieht keiner aus, der unrecht hat“, beteuerte einer, und der junge Kadi fragte: „Ist das deine eigene Meinung, oder hat man das bei dir zu Hause gesagt?“
„Das meinen alle, die bei uns wohnen“, antwortete der Knabe.
Harun al Raschid war gespannt, wie sich das Spiel entwickeln würde. Er wandte sich an Dschafar und fragte, ob es sich um jenen Ali Chodschah handle, dessen Bittschrift er vor wenigen Stunden erhalten habe. Der Großwesir bestätigte es. Nunmehr beobachtete der Fürst mit noch größerer Spannung das seltsame Spiel. Alle Kinder waren eifrig bei der Sache. Sie verteilten die Rollen, und jene, die keine bekamen, spielten die Zuschauer. Der Knabe, der die Rolle des Richters zu spielen hatte, warf sich sein Gewand in besonderer Raffung um die Schulter und setzte sich auf einen erhöhten Platz. Dann sprach er ruhig und gemessen: „Ali Chodschah, Kaufmann aus Bagdad, du hast sieben Jahre in fernen Ländern gelebt und erhebst wenige Tage nach deiner Heimkehr Anklage wider diesen Kaufmann, der bisher als ehrenhaft bekannt und lange Zeit dein Freund war. Nun rede und erkläre ausführlich, wie sich alles zugetragen.“
Der Knabe, der die Rolle des Ali Chodschah spielte, verneigte sich tief vor dem Richter und brachte seine Klage in allen Einzelheiten vor. Dann bat er, das Gericht möge ihm nicht nur zu seinem Golde verhelfen, sondern auch sein geschändetes Ansehen wiederherstellen.
Jetzt wurde der Knabe befragt, der den Kaufmann spielte. Auch er wußte die Worte gut zu setzen und sprach fast wortgetreu dasselbe,
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