Märchen unter dem Wüsenhimmel
nicht, aber sie hielt es für sinnlos, es auszusprechen. Also nickte sie nur und blickte hinab auf ihre Hände. Ihr stockte auf einmal der Atem, als sie das Muster aus Henna auf ihrer Haut sah. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie einmal von der Sitte gelesen hatte, die Hände und Füße einer Braut mit Henna zu verzieren. Warum hatte sie sich am Vortag nicht daran erinnert?
„Ich kann es nicht fassen“, murmelte sie und blickte zum König auf. „Etwas Schreckliches ist passiert. Mir ist bewusst, dass Malik Ihr Sohn und der Kronprinz ist, aber ich hoffe,dass Sie Ihre persönlichen Gefühle beiseite lassen und mich anhören.“
Der König nickte ernst. „Natürlich.“
Malik stellte sich mit dem Rücken zu ihnen an das Fenster.
Sie hatte keine Ahnung, was in ihm vorging, und es kümmerte sie auch nicht. „Gestern habe ich Prinz Malik in die Wüste begleitet“, begann sie, und dann berichtete sie in kurzen Zügen von den Ereignissen. „Es kann nicht wahr sein. Ich habe nie zugestimmt. Es muss ein Irrtum sein. Ich will nicht mit ihm verheiratet sein. Niemand hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will.“
Der König tätschelte ihre Hand. „Die Sitten hier sind anders als im Westen. Eine traditionelle Wüstenhochzeit erfordert nicht die Einwilligung der Braut, sondern nur ihrer Familie.“
„Aber ich habe keine Familie hier.“
Weise Augen, die Maliks so ähnlich waren, musterten ihr Gesicht. „Ohne Familie, die für Sie sorgt …“
Sie entzog ihm die Hand und stand auf. „Ich brauche niemanden, der für mich und meine Tochter sorgt. Ich komme sehr gut allein zurecht.“
„Das stimmt. Die alten Sitten berücksichtigen jedoch keine Frau, die sich selbst erhalten kann. Vielmehr wird eine Frau ohne Familie mit dem ersten Mann verheiratet, der bereit ist, für sie zu sorgen.“ Givon lächelte. „Auf unsere eigene Weise stellen wir sicher, dass jeder versorgt ist.“
Liana unterdrückte ihre Verzweiflung. Sie durfte sich nicht den Zorn des Monarchen zuziehen, sondern brauchte ihn auf ihrer Seite. Doch es fiel ihr schwer, den Sarkasmus aus ihrer Stimme zu verbannen. „Sie sagen also, dass jeder Mann in El Bahar mich gegen meinen Willen heiraten kann, weil ich keine Familie habe?“
„In gewisser Weise ja. Aber, wie ich erwähnt habe, sind dasdie alten Sitten. Die Dinge haben sich inzwischen geändert.“
Erleichterung durchströmte sie. Sie sank zurück auf das Sofa und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. „Also sind wir nicht verheiratet?“
König Givon blickte zu seinem Sohn, der ihnen immer noch den Rücken zukehrte. „Moderne Praktiken haben zwar zumeist die alten Traditionen verdrängt, aber unter gewissen Umständen können die Zeremonien der Wüste dennoch Gültigkeit haben.“
Liana schluckte schwer. „Welche Umstände?“
„Wenn Sie sich gestern Abend der Zeremonie unterzogen haben und das alles war, dann kann die Ehe sofort annulliert werden. Wenn die Ehe jedoch vollzogen wurde, ist das Paar wirklich verheiratet – für einen Monat. Nach Ablauf dieser Zeit können Sie eine Scheidung erwirken, aber nicht vorher.“
Sie konnte kaum atmen. Sie konnte nicht denken, sie konnte sich nicht rühren. Sie konnte nur den König anstarren und die Lippen zusammenpressen, um nicht vor Verzweiflung zu schreien. „Das kann nicht sein“, flüsterte sie.
Givon zog beinahe unmerklich die dunklen Augenbrauen hoch. „Ich verstehe.“
Nur zwei Worte, doch dahinter lag eine ungeheure Bedeutung. Mit glühenden Wangen sprang Liana auf, murmelte eine Entschuldigung und lief aus dem Raum. Sie stürmte an den verblüfften Wachen vorbei und rannte, bis sie das Büro des Königs weit hinter sich gelassen hatte und sich wieder in einem vertrauten Teil des Palastes befand.
Bei einem kleinen Springbrunnen in einem Alkoven blieb sie stehen. Das Plätschern des Wassers klang wie winzige Glöckchen, aber sie hörte die zarte Melodie kaum, denn Schluchzer schnürten ihr die Kehle zu.
Es darf nicht wahr sein, dachte sie verzweifelt, heutzutage kann bestimmt kein Mann eine Frau gegen ihren Willen ehelichen,nicht einmal ein Kronprinz. Und falls doch, welchen Grund hätte Malik dafür?
Sie kannte nur eine Person, bei der sie sich Rat holen konnte. Daher eilte sie zu der goldenen Tür.
Die weiblichen Familienmitglieder hatten sich im Harem versammelt und erwarten sie bereits. Bethany lief freudestrahlend zu ihr. „Fatima sagt, dass du wirklich mit Prinz Malik verheiratet bist, und deshalb bist du eine
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