Maerchenerzaehler
vielleicht war eine von ihnen blind. Das Halbmondlicht spiegelte sich auf dem zugefrorenen Fluss, dort, wo der Wind das Eis blank gefegt und den Schnee fortgetragen hatte. »Manchmal kann ich nicht mehr unterscheiden«, flüsterte Anna, »zwischen Schönheit und Trostlosigkeit. Ist das nicht merkwürdig? Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich glücklich bin oder traurig. Wenn ich an dich denke, ist es so.«
Sie setzten sich auf eine der Bänke hinter den Fischbaracken und tranken Magnus’ Wein aus der Flasche. Es war zu kalt, um sich nicht nah zu sein, und die ungeschriebenen Regeln wichen ein wenig zurück. Sie saßen ganz dicht aneinandergedrängt wie Wintervögel auf einer Stromleitung. Der Wein wärmte ein wenig von innen.
Sie dachte, dass sie vielleicht zu viel davon trank. Und dass es vielleicht egal war.
»Wenn dieses Abi vorbei ist, werde ich schreiben«, flüsterte Abel. »Über alles. Nicht nur ein Märchen für Micha. Über die Schönheit und die Trostlosigkeit. Über die Kälte dieser Nächte. Man kann Worte für alles finden. Ich möchte an einem Schreibtisch sitzen, der so groß ist, dass man darauf schlafen könnte, und ich möchte das Meer sehen. Später, viel später, gibt es womöglich einen solchen Schreibtisch. Er wird so groß sein, dass Micha sich daraufsetzen und mir zugucken kann, wie ich schreibe. Oder sie kann ein Bild malen zu den Worten.«
»Und ich?«, fragte Anna. »Habe ich auch Platz auf dem Schreibtisch?«
»Du hast deinen eigenen Platz in der Welt«, antwortete Abel. »Du wirst fortgehen und uns vergessen. Wolltest du nicht nach England? Du brauchst uns nicht. Du hast die Musik und … alles … da ist gar kein Raum für uns.«
»Unsinn«, sagte Anna. »Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch nach England will. Vielleicht bleibe ich hier. Richte mir eine Schublade in deinem Schreibtisch ein, damit ich irgendwo schlafen kann, wenn es regnet, ja?«
Sie stellte die Flasche auf den Boden und küsste ihn, die Flasche war leer, und Anna fühlte sich leicht, sie schob die ungeschriebenen Regeln weit, weit fort, sie löste die Knöpfe ihres Mantels, den Reißverschluss seines Pullovers, sie wollte seine Hand wieder nehmen, so wie damals auf dem Sofa – er befreite sich und stand auf.
»Gehen wir zurück zu den Rädern. Es ist spät.«
Aber sie gingen Arm in Arm, sie gingen nicht schnell, sie gingen einen Umweg, um den großen Bootsschuppen herum, wo die Boote des Uni-Segelklubs lagen. Anna ließ eine Hand an den Stäben der Umzäunung entlanggleiten. Und dann blieb sie stehen.
»Die Tür«, flüsterte sie. »Die Tür ist offen. Und die Tür der Bootshalle auch, siehst du? Ist jemand dort, jetzt, nachts?«
Sie lauschten gemeinsam in die Dunkelheit. Es war nichts zu hören.
»Jemand hat vergessen, abzuschließen«, sagte Abel. Anna zog ihn mit sich durch den Zaun, auf das Gelände des Segelklubs.
»Komm!«, wisperte sie. »Wir können uns ihre Boote ansehen! Vielleicht ist ein grünes dabei, mit gelbem Steuerrad …«
»Da drinnen liegen nur Jollen«, sagte Abel. »Was willst du dort, wir …«
»Komm!«, bat Anna noch einmal. »Lass uns irgendetwas Dummes tun! Wann findet man schon mal einen Bootsschuppen, der nicht abgeschlossen ist?«
Sie ließ ihn los, drehte sich auf dem leeren Platz vor dem Schuppen im Kreis, ihr offener Mantel flog um sie herum wie ein Kleid und über ihr fraßen die Wolken sich gegenseitig auf. Es war wie ein Tanz, sie drehte sich mit zum Himmel erhobenem Gesicht, so lange, bis ihr schwindelig war. Sie lachte. Sie wollte nicht ernst sein, nicht jetzt. Sie strauchelte, und Abel fing sie in seinen Armen auf und lachte auch, jedoch ein wenig zögernd.
»Du bist ja betrunken.«
»Und wenn?«, fragt Anna. Sie zog ihn weiter, zur angelehnten Tür der Bootshalle, zog ihn hindurch.
»Wir können nicht …«, begann er, doch sie legte ihm einen Finger auf den Mund.
»Niemand ist hier. Ich möchte die Boote sehen. Vielleicht lerne ich später segeln. Kannst du segeln?«
»Nein.«
»Hier muss doch ein Lichtschalter sein …«
»Wenn du den findest, weiß auf jeden Fall jeder, dass wir hier sind. Ich möchte keinen Ärger kriegen. Bitte, lass es! Wenn dudir unbedingt diese Boote ansehen willst, ich habe eine Taschenlampe …«
Das weiße Licht der Lampe tauchte in der Dunkelheit auf und begann, über die Leiber der Boote zu gleiten. Abel hatte unrecht gehabt, es waren nicht nur Jollen, es gab auch aufgebockte Kielboote, kleine und große, und an
Weitere Kostenlose Bücher