Maerchenerzaehler
oder?«, fragte der Mann, und in seiner Stimme schwang die Traurigkeit jetzt tief und weit wie eine Schaukel, die an einem sehr hohen Buchenast hing, einladend, damit ein kleines Mädchen sich daraufsetzen konnte. Nein. Sie schwang wie ein Strick. Sie war falsch, dachte Anna. Völlig falsch.
»Nein«, antwortete Micha. »Wer sind Sie?«
»Ich habe doch gesagt: Du kannst Du zu mir sagen«, meinte der Mann. »Micha. Meine kleine Micha.« Er schob seinen Ärmel hoch, und Anna sah undeutlich, dass er eine Tätowierung auf dem Oberarm trug. »Aber … das ist mein Name«, sagte Micha. Der Mann zog sie sanft an sich und Micha setzte sich auf das Knie des Mannes.
»Natürlich ist das dein Name«, sagte er. »Ich bin Rainer. Weißt du, wer Rainer ist? Rainer Lierski?«
»Hab ich mal gehört«, sagte Micha. »Wer ist das noch?«
»Dein Vater, Micha. Ich bin dein Vater. Ich habe dich lange, lange nicht sehen dürfen. Sie haben es mir verboten. Deine Mutter und … vor allem Abel. Er kann mich nicht leiden. Ich weiß nicht, wieso. Deine Mutter … sie ist fort, nicht wahr?«
Micha nickte. »Verreist. Sie kommt aber bald wieder.«
»Solange, bis sie wiederkommt, könntest du bei mir wohnen«, sagte der Mann. »Ich habe eine schöne große Wohnung. Du hättest dein eigenes Zimmer, ein schönes großes Zimmer mit hellen Fenstern … die Wohnung ist sehr leer. Es ist traurig, allein in einer leeren Wohnung zu wohnen, weißt du?«
Micha stand auf. »Nein, danke«, sagte sie höflich. »Ich bleibe lieber bei Abel. Abel ist nämlich nicht verreist, und er verreist auch nicht, nicht ohne mich. Sie dürfen das meiner Mutter nicht sagen, aber Abel ist nämlich wichtiger als sie. Sie war immer nur ein bisschen da, ich weiß gar nicht, wo der Rest von ihr war, und soschlimm ist es eigentlich nicht, dass sie verreist ist. Kann ich denn … kann ich mit Ihnen mal auf dem Schiff fahren, ohne dass ich umziehe?«
»Sicher«, sagte der Mann. »Ich wäre sehr glücklich darüber. Das mit dem Wohnen kannst du dir immer noch überlegen. Ich kenne eure Wohnung. Sie ist wirklich klein. Ich habe auch dort gewohnt, weißt du, damals, für zwei Jahre, aber daran erinnerst du dich nicht. Gehst du jetzt dorthin? Nach Hause? Soll ich dich hinbringen?«
»Ich finde den Weg selbst«, sagte Micha. »Bloß, kann ich vorher das Schiff noch angucken? Die Kajüte von innen?«
»Klar«, sagte der Mann, stand auf und legte einen Arm um Micha. Das war genug. Vielleicht schätzte Anna diesen Mann falsch ein, er konnte nichts dafür, dass er Rainer hieß, nicht wahr? Vielleicht tat sie ihm Unrecht, und vielleicht mischte sie sich in Dinge ein, die sie nichts angingen, aber er war ihr zuwider. Alles an ihm war künstlich, aufgesetzt, schmierig. Und seine schlecht geschnittene Jeans, seine Trainingsjacke unter der gefütterten Kunststoffweste, seine Mütze – der ganze Rainer Lierski stammte aus dem Sonderangebot von Aldi. Was nichts ausmachte. Aber Anna bezweifelte, dass ihm das Schiff gehörte. Jeder kann auf ein fremdes Schiff steigen.
»Micha!«, rief sie. »Micha!«
Micha sah auf und auch Rainer sah auf. In seinen Augen stand etwas wie Ertapptsein. Er hatte den Arm noch immer um Micha gelegt. Er ließ sie nicht los.
»Wer ist das?«, fragte er.
»Oh, das ist Anna«, sagte Micha, so selbstverständlich, als würde sie Anna schon seit Jahren kennen, und irgendwie versetzte Anna das einen schmerzhaften Stich in der Brust.
»Du hast deinen Schlüssel vergessen!«, rief Anna zu ihr hinüber. »Ich habe ihn! Ich erkläre dir später, wieso. Komm jetzt! Es ist kalt!«
»Ich muss noch schnell das Schiff angucken!«, rief Micha zurück. »Dann komme ich!«
»Nein!«, rief Anna. »Du kommst jetzt. Jetzt sofort!«
Sie legte so viel Autorität in ihre Stimme, wie sie konnte. Es reichte nicht.
»Gleich!«, rief Micha.
»Jetzt!«
»Nein, gleich! Gleich sofort!«
Rainer Lierski sah sich um, als könnte noch jemand in der Nähe sein, der besser nicht in der Nähe wäre. Dann trat er an die dunkelgrüne Reling.
»Anna«, sagte er. »Sie sind also Anna. Und wer ist Anna, die glaubt, meine Tochter herumkommandieren zu müssen? Wer sind Sie?«
Anna schluckte. Wer war sie? Ein Mädchen in einer Seifenblase. Die Tochter von Magnus und Linda Leemann aus der Fleischervorstadt in Greifswald, aus einem Haus, in dem die Luft immer blau war. Abiturientin, Musikerin, englisches Au-Pair in spe. Gittas steril abwaschbare kleine Schwester. Nein. Sie war jemand, der
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