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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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war wie ein Turm, die Stufen altgrau, scharfkantig und voller matschiger Stiefelspuren. Das Geländer sah nicht so aus, als dass man es anfassen wollte. Micha fasste es nicht an. Es gab keinen Fahrstuhl, vier Stockwerke ohne Fahrstuhl, sportlich, dachte Anna, vielleicht gefördert von der Barmer Krankenkasse. Micha und Abel wohnten im vierten Stock. Die Flurfenster waren blind, das auf der zweiten Etage gesprungen. Oder eingeschmissen. Im dritten Stock stand eine tote Topfpalme, die Art Topfpflanze, die niemandem gehört, eine streunende Pflanze sozusagen, schließlich unbemerkt verdurstet. Als sie an der Pflanze vorübergingen, öffnete sich unten im Haus eine Tür, und jemand rief nach oben: »Micha? Bist du das?«
    »Ja!«, rief Micha. »Das ist Frau Ketow«, sagte sie leise zu Anna. »Ich mag sie nicht. Sie hat drei kleine Kinder, aber die hat sie nur so, das sind nicht ihre. Sie schreien immer und dann schreit sie auch und es ist ganz laut bei denen.«
    »Ist deine Mama wieder da?«, rief Frau Ketow.
    Anna sah einen dicken Arm in einem Trainingsanzug unten auf dem Geländer liegen, mehr sah sie nicht von Frau Ketow.
    »Nein«, antwortete Micha. »Das hier ist Anna.«
    »Und wer ist Anna?«, rief Frau Ketow. »Passt die jetzt auf dich auf?«
    Micha antwortete nicht mehr. Sie beeilte sich, die letzten beiden Absätze hinaufzusteigen, und schloss die Wohnungstür auf. Anna trat hinter ihr in einen Geruch nach Linoleum und überalterter Gasheizung ein.
    »Hier musst du die Schuhe abstellen«, sagte Micha. Und: »Das da hab ich gemalt. Das auch.«
    Die Wand war voll von ihren Kunstwerken. Micha konnte Apfelbäume zeichnen, aber keine Pferde. Sie konnte Häuser mit einem einzigen Raum, aber keine Himmelbetten. Sie konnte Seelöwen, aber keine Männer.
    »Das hier in der Küche hab ich erst gestern gemacht«, sagte sie und zog Anna in einen Raum, der kaum größer war als eine Toilette. Über dem Herd hing dort ein Bild mit einer Art Klumpen aus lauter verworrenen, verwickelten Bleistiftlinien darauf, die nicht zu wissen schienen, wohin sie wollten.
    »Das ist der Diamant«, erklärte Micha. »Das Herz, weißt du? Das Herz der kleinen Klippenkönigin.«
    Die Küche war sehr ordentlich und ebenso kläglich. In ihr wohnte dieselbe Trostlosigkeit wie auf dem Hof von Michas Schule an einem Freitag nach der letzten Stunde. Wie die Papierschneeflocken an der Schultür machten die Bilder die Trostlosigkeit fast noch schlimmer, sie zeigten den Versuch, die Trostlosigkeit zu besiegen, sie zeigten, dass jemand um die Trostlosigkeit wusste. Das Furnierder Wandschränke löste sich an den Ecken und rollte sich von den Spanplatten ab. Vor dem schmalen Fenster lag der kalte, leere Hof mit den tausend Fensteraugen, den tausend anderen Wohnungen.
    Am asthmatisch röhrenden Kühlschrank hingen vergilbte Fotos, die nicht so uralt sein konnten, wie sie aussahen. Annas flüchtiger, gestohlener Blick fand eines von einem Jungen, etwa zwölf Jahre alt, der ein kleines Mädchen auf dem Arm hielt und stur an der Kamera vorbeisah. Es gab noch mehr Bilder von dem Mädchen, auf einem Spielplatz, als Baby in einem Tragekorb, mit anderen Kindern zu einem Kindergartengruppenbild aufgestellt. Es gab keine Fotos von einer Mutter. Anna sah weg.
    Sie fand Mehl und Eier und eine Pfanne, sie fand Zucker und Öl, und schließlich machte sie Pfannkuchen auf dem Herd, während Micha mit angezogenen Beinen auf der Kommode saß, den Rücken gebeugt, um nicht oben am Hängeschrank anzustoßen, und zusah.
    »Abel«, sagte sie, »der kann die Pfannkuchen schmeißen.«
    »Ja«, sagte Anna. »Heute hätte er beinahe seine Klausur geschmissen, aber ich habe ihn nicht gelassen.«
    »Die verbrennen«, sagte Micha fachkundig und beugte sich vor. »Ist aber nicht so schlimm. Wenn ich alleine bin, esse ich nur Butterstullen. Anna? Ich muss immer an Rainer denken. Ist er mein Vater oder nicht? Bilologisch, hast du gesagt. Was heißt das?«
    »Das heißt …« Anna versuchte, den Pfannkuchen von der Pfanne zu kratzen, dessen angebrannter Rand sich nicht lösen wollte. »… dass deine Mutter und er …«
    »Ach so«, sagte Micha. »Dass er sie gefickt hat?« Und dann legte sie schnell einen Finger auf die Lippen. »Verrat Abel nicht, dass ich das Wort gesagt habe«, flüsterte sie. »Er versucht zu denken, dass ich es nicht kenne.«
    »Weißt du denn, was es heißt?«
    »Nee«, sagte Micha. »Nicht so richtig.«
    »Das lernst du noch«, sagte Anna. »Irgendwann. So wie

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