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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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noch nicht wusste, wer er sein würde. Sie schluckte noch einmal. Rainer in seiner Trainingsjacke, Rainer aus dem Sonderangebot machte ihr mehr Angst als Abel. Micha war ihm entschlüpft, aber jetzt holte er sie mit einem langen, einem unwirklich langen Arm zu sich und drückte sie an seine Seite. »Sie ist meine Tochter«, wiederholte er.
    »Nein«, sagte Anna. »Das … das ist sie nicht. Biologisch vielleicht.«
    Rainer schnaubte. Micha sah unsicher von Anna zu ihm undzurück. »Und ich glaube nicht«, setzte Anna hinzu, »dass das Ihr Schiff ist.«
    »Natürlich ist es mein Schiff«, sagte Rainer leise und scharf, und sein Tonfall überzeugte Anna davon, dass es nicht so war. »Abel hat Sie geschickt, nicht wahr?«, fragte er. »Richten Sie ihm aus, dass ich Bescheid weiß. Michelle kommt nicht wieder. Die ist weg. Ich werde mich um meine Tochter kümmern, wie jeder Vater es tun würde. Und wenn er das von mir persönlich hören will, soll er zu mir kommen.«
    Er hatte Jacke und Hemd noch immer an einer Seite bis zur Schulter hochgekrempelt. Anna sah seine Muskeln unter der Tätowierung spielen. Und dann wusste sie es. Sie wusste, was sie sagen musste. Sie fand ihre Trumpfkarte.
    »Micha«, sagte sie, »erinnerst du dich, was die weiße Stute zu dir gesagt hat? Ehe die Insel sank?«
    Sie sah Rainers Gesichtszüge in Unverständnis entgleisen. »Was reden Sie da?«, fragte er ärgerlich. »Was soll das? Ist das irgendeine Art von bescheuerter Geheimsprache?«
    »Die weiße Stute?«, sagte Micha. »Sie hat gesagt, sie würde sterben … oh, das war schrecklich … und dass ich schnell laufen sollte, zur höchsten Klippe … und wenn ich einem Mann begegne, der meinen Namen trägt …«
    Anna deutete stumm auf Rainers Bizeps, auf dem MICHA in tintig tätowierten Buchstaben prangte. Sie sah, wie Micha verstand. Für jemanden mit sechs Jahren verstand sie erstaunlich schnell.
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie und machte sich von Rainer los, diesmal endgültig. »Ich gucke mir das Schiff ein andermal an. Auf Wiedersehen.«
    »Warte!«, rief Rainer, doch Micha rannte wieselschnell an derReling entlang, hüpfte an Land wie ein kleiner Gummiball in einer rosa Daunenjacke und nahm die Hand, die Anna ihr entgegenstreckte.
    »Wir rennen«, sagte Anna. »Wer als Erster bei der Brücke ist. Eins, zwei –«
    Und dann rannten sie. Anna ließ Micha gewinnen. Sie sah sich erst bei der Brücke um. Rainer folgte ihnen nicht.
    »Anna«, sagte Micha keuchend. »Hat Abel dich geschickt?«
    »Ja«, sagte Anna. »Und du musst diesem Mann nicht glauben, kein Wort, hörst du? Michelle … eure Mutter … sie kommt bald zurück, ganz bestimmt. Das weiß ich, weil … das weiß ich von Abel. Ich bringe dich nach Hause. Du kannst auf den Gepäckträger klettern.«
    »Aber das Schiff«, sagte Micha, bereits auf dem Gepäckträger. »Anna, das Schiff, das war schon schön, oder? Und eigentlich war er auch nett zu mir. Vielleicht hätte er mir Bonbons gegeben, unten in der Kajüte. Er sah aus wie ein Mann, der einem Bonbons gibt.«
    »Exakt«, sagte Anna und schüttelte sich. »Genau so sah er aus.«
    Und insgeheim fragte sie sich, ob Michelle wirklich wiederkam. Abel glaubte es nicht. Rainer glaubte es nicht. Wussten sie beide genauer, wo Michelle war, als sie zugeben wollten?
    Anna hätte Micha zu Hause absetzen können. Ihr den Schlüssel geben. Winken. Zur zweiten Stunde Musik gehen. Oder nach Hause. Sie hätte sagen können »Lass keinen rein« und »Abel ist gleich da« und tausend andere Sätze. Sie sagte: »Ist es okay, wenn ich mit raufkomme und Mittagessen mache?«
    Die Häuser mit den Eingängen 18, 19 und 20 bildeten eine Seite eines großen Innenhofs, in dessen Mitte sich das tote Gras in Winterschlamm verwandelt hatte. Anna fühlte Augen aus tausend Fenstern auf sich ruhen, während sie auf Michas Antwort wartete. Tausend Augen, hinter denen sich tausend Stirnen wunderten, was sie hier tat, wo sie nicht hingehörte.
    »Essen machen? Kannst du das?«, fragte Micha.
    Anna lachte. »Irgendwas werdet ihr schon haben, woraus ich ein Mittagessen machen kann.«
    Micha runzelte die Stirn, schon halb im Hausflur. »Mama konnte kein Mittagessen machen«, sagte sie, »sie hat es immer vergessen und sie hatte andere Sachen zu tun oder musste wohin oder so.« Und dann fügte sie rasch hinzu: »Aber sie war nett. Sie soll wiederkommen.«
    »Ja«, sagte Anna. »Sie kommt. Bestimmt. Nur nicht heute.«
    Das dustere, enge Treppenhaus

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