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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ich das Pfannkuchenmachen. Das lerne ich auch noch irgendwann. Hoffentlich. Habt ihr Marmelade?«
    »Erdbeer«, sagte Micha.
    Und dann saßen sie in einem Wohnzimmer, das genauso ordentlich und genauso trostlos war wie die Küche, an einem winzigen, dunklen Furniertisch auf einem grauen Cordsofa aus den Sechzigern oder aus dem Sperrmüll oder aus beidem, neben einem zu großen Fernseher. Die Tapete warf unter der Decke feuchte Blasen und bestand aus senffarbenen Blumen. Ein Museumsstück aus Ostzeiten, dachte Anna, wenn man sie abkratzen könnte, wäre sie was wert.
    Die Erdbeermarmelade bestand zu hundertundzehn Prozent aus Chemie und zu zwei Prozent aus Süßstoff. Micha aß drei Pfannkuchen, samt schwarzer Ränder, und verteilte die Marmelade dabei über ihr ganzes grinsendes Gesicht.
    »Das kannst du öfter machen«, sagte sie.
    Anna nickte. »Wenn du willst«, sagte sie. Und sie dachte an Lindas Pfannkuchen zu Hause, in der blauen Luft, zwischen den alten, sichtbaren Küchenbalken, Pfannkuchen mit Lachs und Crème fraîche und einem Gartenzweig auf dem Tisch und Mahler-Sinfonien vom Plattenspieler auf der antiken Kommode mit den bunten Emailleknöpfen. Sie knüllte das blaue Universum samt der Mahler-Musik zusammen und schluckte es mit dem letzten Bissen verbrannten Anna-Pfannkuchens hinunter, und da hatte sie plötzlich einen so großen Kloß im Hals, dass sie nur noch schlecht Luft bekam.
    »Du siehst ja ganz traurig aus«, sagte Micha. »Ist was los?«
    »N…nein«, sagte Anna. »Ich dachte nur gerade an etwas.«
    »Das kenn ich«, meinte Micha. »Ich denk auch manchmal an etwas. Ich weiß was, um dich wegzulenken.«
    »Meinst du abzulenken ?«
    »Glaube ja«, sagte Micha. Und dann beugte sie sich auf ihrem Cordsessel vor und flüsterte verschwörerisch: »Willst du wissen, wie das Märchen von der kleinen Klippenkönigin weitergeht?«
    »Ja«, sagte Anna, ohne zu zögern.
    »Ich auch«, flüsterte Micha. »Er hat es nicht erzählt, am Wochenende. Er hat gesagt, er muss erst nachdenken. Aber er hat was aufgeschrieben. Ich kann mir denken, wo die Zettel liegen. Sollen wir schummeln?«
    »Vielleicht«, flüsterte Anna.
    Da stand Micha auf und flitzte in den hinteren Teil der Wohnung, wo die Atmosphäre unordentlicher wirkte, mehr wie etwas, das in Richtung Kinderzimmer führte, man sah es an den Dingen, die in dem engen Schlauchflur verstreut lagen – eine bunte Mütze, ein Bilderbuch, Puppenhandschuhe. Anna brachte die Teller zurück in die Küche und wusch ab, während Micha suchte. Sie wusch auch den Rest des Geschirrs ab, der neben der Spüle gestapelt war. Das Spülwasser lief schlecht ab, der Abfluss schien verstopft zu sein. Anna erkannte die Prägung der leichten Blechbestecke, ein Relikt aus DDR-Zeiten, genau wie die Tapete. Ein Museum. Sie fragte sich, wie alt Michelle gewesen war. Gewesen war? Hatte sie gerade gedacht »gewesen war«?
    »Ich hab sie!«, rief Micha triumphierend. Sie stand im Flur wie Jeanne d’Arc, wild entschlossen zu verbotenen Taten, mit gelösten Zöpfen, statt der Trikolore ein paar weiße Blätter in der erhobenen Faust. Anna lächelte.
    »Du darfst mit in mein Zimmer kommen«, sagte Jeanne d’Arc, und Anna fühlte sich geehrt. Sie ließ sich von Micha in ein Zimmer führen, das eigentlich komplett aus einem Hochbett bestand, da sonst nichts mehr hineinpasste. Unter dem Bett stand ein Schreibtisch: eine Spanplatte auf zwei Holzböcken. Es gab kein Fenster.
    »Das Bett hat Abel gebaut«, sagte Micha. »Komm. Wir passen beide drauf, Abel und ich passen auch beide drauf. Die dritte Sprosse ist lose, pass auf!«
    Und dann drückte sie Anna zwei handbeschriebene Blätter in die Hand.
    »Lies vor. Frau Margarete hört auch zu. Sie ist ja in der Geschichte, sie muss wissen, wie es weitergeht …«
    »Natürlich«, sagte Anna.
    »Das grüne Schiff mit dem gelben Steuerrad segelte drei Tage lang nach Nordwesten. Der Wind schob es stetig voran, und auf dem Bug stand die kleine Klippenkönigin mit Frau Margarete im Arm, deren blau-weiß geblümtes Kleid im Wind wehte. Manchmal war das Meer für Stunden klar wie blaues Glas, dann konnte man bis weit hinunter in die Tiefe sehen, und dort schwammen violette Quallen mit silbernem Muster und langen, rubinroten Fangarmen, schöner als alle Sommerblumen.
    ›Ja, sie sind schön‹, sagte der Seelöwe. ›Aber sie sind auch gefährlich. Sie können dich mit ihrer Schönheit verbrennen.‹
    Der Seelöwe schwamm neben dem grünen Schiff,

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