Maerchenerzaehler
Rosenmädchen sah unten im Wasser den Seelöwen schwimmen, und es sah, wie er den Kopf schüttelte. ›Wir haben keine Zeit‹, sagte er leise. ›Seht ihr nicht, dass die schwarzen Segel schon wieder näher gekommen sind?‹
Er tauchte wieder in eine Welle, die voller Eissplitter war, und das Rosenmädchen sah in den klaren Strudeln eine kreisrunde Wunde auf seiner rechten Flosse, ehe er verschwand.
Auf der Insel des reichen Mannes stand ein Palast aus blauem Glas wie das Eis eines Baches im Winterwald. Und in den Scheiben sang der Wind:
›Was kann diese Insel geben?
Freude, Farben, Licht und Leben.
Was dein Herz begehrt, sie kann es.
Dies ist die Insel des reichen Mannes …‹
Drinnen, im Schutz der wärmenden Scheiben, wuchsen Orangen- und Zitronenbäume, hohe Dattelpalmen und Bananenstauden in großen verzierten Töpfen. Im Kamin brannte ein behagliches Feuer, und auf dem Sofa davor lag ein Brief, beschwert mit einem goldenen Briefbeschwerer.
›Verehrte Reisende‹, las der Leuchtturmwärter vor. ›Bedient euch an den Früchten in meinem Gewächshaus. Ich bin für eine Weile fort. Ich habe heute Morgen eine Flaschenpost gefunden, in der steht, dass da draußen auf der Insel eine Bettlerin lebt. Ich dachte bis jetzt, die Insel wäre unbewohnt … Nun bin ich unterwegs dorthin. Ich werde die Insel der Bettlerin verwandeln. Alles, was ich anfasse, wird fruchtbar und schön, ich weiß nicht, ich habe eben Glück mit den Händen.‹
›Oh!‹, rief die kleine Königin. ›Er ist nicht mehr hier! Er ist auf seinem eigenen Schiff davongefahren, um die Insel der Bettlerin zu besuchen! Er ist an uns vorübergefahren, ohne dass wir ihn bemerkt haben!‹
›Aber jetzt kann die Bettlerin doch im Palast wohnen‹, sagte das Rosenmädchen.
Die Bettlerin setzte sich zwischen die Orangenbäume. Sie sah ein wenig verloren aus.
›Vergiss nicht, die Orangen zu gießen‹, sagte die kleine Königin.
›Ja …‹, sagte die Bettlerin vage.
›Und vergiss nicht, ab und zu die Fenster des Palastes zu putzen, damit Licht hereinkommt und die Bäume wachsen können!‹
›Ja …‹
Sie nahmen einen Korb voll Früchte mit und gingen zurück an Bord des grünen Schiffes.
›Jetzt ist sie glücklich‹, sagte die kleine Königin und drückte Frau Margarete fest an sich vor Freude, sodass Frau Margarete etwas platt und ungehalten wurde. ›Wir haben ihr geholfen.‹
Aber das Rosenmädchen und der Leuchtturmwärter standen am Heck und blickten zurück zur Insel des reichen Mannes. Da blickte auch die kleine Königin zurück. Und sie sah, dass der Palast ein wenig grau aussah, als wäre er dabei, seine Farben zu verlieren. Die Orangenbäume verloren ihre Orangen und begannen zu welken. Auf der Insel der Bettlerin aber schien der tote Baum zu grünen.
›Das ist der reiche Mann mit seinen Glückshänden‹, sagte der Leuchtturmwärter.
›Und die Bettlerin mit ihren Unglückshänden‹, sagte das Rosenmädchen.
›Oh nein!‹, rief die kleine Königin. ›Vielleicht müssen sie sich treffen, damit alles gut wird?‹
›Schreit nicht so herum!‹, sagte die blinde weiße Katze. ›Ich will schlafen. Man kann die Dinge eben nicht ändern. Arm bleibt Arm und Reich bleibt Reich, und die , die treffen sich nie.‹
Die kleine Königin löste ihren Blick von den Inseln und da sah sie das schwarze Schiff. Es schob sich vor das Bild der Insel, schloss das Tageslicht aus, erhob sich wie ein drohendes Gebirge aus dunklen Masten und Segeln und Tauen, ganz nah. Sie hörten den Wind in der Takelage singen:
›Segel schwarz und schwarz die Planken,
wir sind die, die niemals wanken,
niemals zögern, niemals zaudern,
niemals lächeln, niemals plaudern.
Unser Schiff ist unversenkbar,
nur von schwarzen Händen lenkbar,
scheut kein Wetter, scheut kein Riff,
dieses ist der Jäger Schiff.‹
›Werden sie uns töten?‹, fragte der Fragende auf dem Bug.
›Im Elisenhain, zwischen den Haselbüschen‹, antwortete der Antwortende auf dem Heck.
Die kleine Königin klammerte sich an das Rosenmädchen. Der Schatten des schwarzen Schiffes berührte die Reling. Zwei schwarze Gestalten standen dort und blickten zu ihnen hinüber, eine übergewichtige Frau im Trainingsanzug und ein jüngerer Mann. Dahinter konnte die kleine Königin noch zwei Leute sehen: ein älteres Paar.
In diesem Augenblick landete der silbergraue Hund an Deck.
›Hört zu‹, sagte er. ›Wenn es nicht anders geht, müsst ihr das Luftschiff nehmen. Es liegt
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