Märchenmord
Mutter nickte nervös. »Also gut, Gina. Nimm die Linie 6 in Richtung Nation und steig am Place Denfert-Rochereau aus. « Dann wandte sie sich diesem Schleimer Philippe zu, der sie sofort wieder in Beschlag nahm, ohne Gina auch nur anzusehen . Sie verstand. Sie war überflüssig . Seit ihre Mutter auf diesem Jugendtrip war, hatte Gina nich t nur einmal bemerkt, dass unbekannte Männer ihr zulächelten . Ihrer Mutter! Mann, die war vierzig und außerdem konnte sic h Gina nur einen Mann an ihrer Seite vorstellen. Ihren Vater . Trotz der Scheidung. Eltern hatten wie siamesische Zwillinge z u sein. Untrennbar verbunden. Lebenslang . Gina griff nach ihrer Tasche und ging Richtung Tür. Dort wandte sie sich noch einmal um: »Ich geh dann. « »Ja, Chérie. « Ihre Mutter konzentrierte sich wieder auf die Schneiderpupp e und lachte zu einer Bemerkung von Philippe laut auf, der ihr etwas ins Ohr flüsterte und es plötzlich gar nicht mehr eilig hatte . Idiot!, dachte Gina .
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Zeh n
D as Gedränge in der Metro war unerträglich. Wo kamen nur all die Leute her? Gina hatte immer geglaubt, im Sommer sei Paris leer. Auch ihre Familie war früher, wenn sie die Großeltern besuchten, ans Meer gefahren, wo Grand-père ein Landhaus besaß. Doch offenbar hatte sich das geändert. Gina fand keinen Sitzplatz. Sie stand unterhalb der nach Schweiß riechenden Achsel eines Mannes, der sich mit der einen Hand an der oberen Stange festhielt und mit der anderen die Zeitung Le Figaro las. Und die ganze Zeit fiel ihr Blick auf ein junges Pärchen, das sich nicht nur aneinander festhielt, sondern offenbar kurz davor stand, sich gegenseitig zu verschlingen. Warum hatte Tom sich noch nicht gemeldet? Gina hatte ihm bereits gestern unzählige SMS geschickt, aber keine Antwort erhalten. Hatte Marie doch recht? Nein! Er hatte ihr doch am letzten Schultag zugelächelt und versprochen, sich zu melden! »Denfert-Rochereau!« Die mechanische Stimme einer Roboter-frau kündigte die Metrostation an. Hier musste sie aussteigen. Auf dem Bahnsteig wurde sie von der Menschenmenge, die aus der Metro drängte, immer wieder zur Seite gestoßen und Richtung Ausgang geschoben. Endlich stand sie auf der Rolltreppe, die sich langsam nach oben bewegte. Ihr Blick hob sich. Ab und zu blieben ihre Augen an einem Gesicht hängen. Je näher sie dem Tageslicht kam, desto aufgeregter wurde sie. Mann, wie hatte sie nur die Aufnahme auf dem Handy vergessen können. Das musste der Schock gewesen sein. Er hatte einen totalen Blackout hervorgerufen und ihre Festplatte dort oben im Kopf gelöscht.
Monsieur Ravel würde staunen und alle würden sich entschuldigen, einschließlich ihrer Mutter. Aber was das Wichtigste war , die Suche nach der Leiche des Mädchens konnte beginnen . Das Ende der Treppe war fast erreicht . Gina setzte einen Fuß auf die nächste Stufe . Und dann auf der Rolltreppe, die nach unten führte…ihr Her z begann schneller zu schlagen . Erst war es nur eine Ahnung, dann wurde es Gewissheit. Er ka m auf sie zu. Sein Anblick jagte Gina kalte Schauer den Rücke n hinab .
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Er trug denselben Anzug wie am Tag zuvor. Unter der Jacke war wieder das weiße Hemd zu sehen. Dieselbe Mütze auf dem Kopf blickte er starr nach vorne. In seiner Hand eine Kette mit Perlen, die unaufhörlich durch seine Finger liefen. Niemand beachtete den Mann im schwarzen Anzug. Niemandem fiel er auf. Sie war die Einzige, die wusste, wer er war und was er getan hatte. Wohnte der schwarze Mann in der Rue Daguerre? Hatte er das Mädchen am Fenster schon lange beobachtet? War er einer dieser Psychopathen, die Frauen auflauerten? Einer dieser Serienmörder? Er kam immer näher. Gina verbarg sich hinter einer verschleierten Frau, die zahlreiche Taschen mit Gemüse transportierte. Den schwarzen Mann ließ sie nicht aus den Augen. Gleich würde er vorbei sein. Als sie auf derselben Höhe waren, machte die Frau vor ihr einen Schritt zur Seite und gab die Sicht auf Gina frei. Sein leerer Blick traf sie. Nur kurz. Ein Augenaufschlag. Gina erstarrte. Hatte er sie erkannt? Die einzige Zeugin! Als sie oben angekommen war, drehte sie sich um. Die Metro hatte den schwarzen Mann verschluckt, als hätte er nie existiert . Willenlos ließ Gina sich von der Menge weiterschieben, froh , dass sie an der frischen Luft war. Sie blieb stehen. Hinter ih r stieß ein alter Mann mit einem Stock in ihren Rücken. » Vas-y , vas-y , Mädchen. Ich habe keine Zeit. « Gina blieb
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