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Märchenmord

Märchenmord

Titel: Märchenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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kurz stehen und wurde erneut von der Menge mitgerissen. Wie betäubt ging sie weiter und bog, ohne es wahrzunehmen, in die Rue Daguerre. Gleich würde sie in der Wohnun g sein. In Sicherheit . Plötzlich wurde sie aus ihrer Erstarrung gerissen. Jemand packte sie am Arm und zog sie zur Seite. Unwillkürlich stieß Gina einen leisen Schrei aus und drehte sich um . » Comment ça va , Gina? « Vor ihr stand Noah. Er hatte seinen Rollstuhl, in dem ein dicke r Araber in einem langen weißen Gewand saß und Zeitung las , direkt an der Straßenecke postiert. Geübt fuhr Noah mit de r Bürste über die schwarz glänzenden Schuhe seines Kunden . Aus dem CD-Player erklang orientalische Musik . Gina ignorierte Noah, doch der ließ nicht locker . »Du bist blass wie die Morgensonne. Hast du ein Problem? « Blöde Frage . Klar hatte sie ein Problem . Ein Megaproblem . Doch das konnte sie nur lösen, wenn sie so schnell wie möglic h aus Nikolajs Wohnung das Handy holte und anschließend damit zur Polizei ging. Sie hatte keine Zeit für Noah. Sie hatte keine Zeit für Smalltalk . »Laisse-moi tranquille!«, zischte sie, wandte sich ab und wollt e weitergehen . Doch Noah gehörte zur Spezies der Menschen, die nicht s o schnell aufgaben. »Warte, ich bin gleich fertig. «
    Er fuhr rasch weiter mit der Bürste über die Schuhe des Arabers, der an den schwarzen Mann erinnerte. Unwillkürlich blickte Gina zurück zum Metroausgang. Aber außer einer Horde Jugendlicher mit Skateboards kam niemand die Treppe hoch. »Qu’est-ce qu’il y a?«, wiederholte Noah. »Was ist los?« Er spürte, dass etwas nicht stimmte.
    O. k., wie es aussieht, dachte Gina, ist dieser marokkanische Johnny Depp der einzige Mensch in ganz Paris, der sich dafür interessiert, wie es mir geht. Der das Mädchen nicht für eine göttliche Erscheinung, eine Halluzination oder eine Fata Morgana hält. »Er ist hier irgendwo«, antwortete sie. »Wer?« Der Mörder, der Killer. Das Wort fiel ihr nicht auf Französisch ein. Natürlich. Die wirklich wichtigen Worte, die man zum Überleben brauchte, hatte Madame Poulet ihnen nicht beigebracht. Aber schließlich wusste jeder, dass man in der Schule nichts lernte, was man wirklich gebrauchen konnte. »Der Mann von gestern Abend!« Sie fuhr sich mit der Hand über die Kehle. »Du weißt schon. Jeune Fille. Das Mädchen. L’homme , der Mann, Wohnung, appartement . « Sie klang, als wäre dies ein Vokabeltest. Noah sah sie verständnislos an. Die einen glaubten ihr nicht, die anderen verstanden sie nicht. Es war zum Verrücktwerden. Der Mann im Rollstuhl sagte etwas in einem ärgerlichen Tonfall. Sein Französisch hörte sich an, als hätte er die Stimmbänder einer Krähe in seinem Rachen. Noah wandte sich ihm zu, hob entschuldigend die Hände und beugte sich hinunter, um mit einem Tuch die Schuhe endgültig zum Glänzen zu bringen. »Salut«, sagte Gina und wollte weitergehen, doch Noah rief erneut hinter ihr her: »Warte doch!«
    Er nickte dem Mann zu, der sich nun mühsam aus dem Rollstuhl schob und ihm eine Münze zusteckte. Dann wandte er sich wieder Gina zu. »Tu as peur! Du hast Angst, nicht wahr?« Diesmal lächelte er nicht, sondern schaute sie aus seinen dunklen Augen ernst an. Dennoch schüttelte Gina energisch den Kopf: »Nein!« Dabei hatte sie Angst. Eine Scheißpanik. Die Außentemperatur lag bei dreißig Grad im Schatten, aber ihr war kalt. Sie hatte eine Gänsehautattacke nach der anderen. Sie versuchte, die Angst abzuschütteln, indem sie immer schneller lief. »Natürlich hast du Angst«, sagte Noah, der sich ihrem Tempo anpasste. Sein Blick kam nun wieder dem von Johnny Depp in Fluch der Karibik sehr nahe. Gott sei Dank ersparte ihr Monsieur Saïd, der mit einer Kiste Artischocken aus der Ladentür kam, eine Antwort. Er verbeugte sich leicht vor Gina: »Mademoiselle Gina, einen wunderschönen Tag und viele Grüße an die Frau Mama.« Dann griff er nach einem Stapel leerer Kisten. Durch das Schaufenster beobachtete Gina ihn, wie er sie einem Jungen in Jeans und mit kurzen Haaren übergab, der sofort im hinteren Teil des Ladens verschwand. »Ach was, lass mich einfach in Ruhe. Ich habe etwas zu erledigen.« Sie wandte sich ab und überquerte die Straße. Nein, sie hatte keine Zeit. Sie musste das Handy holen. Zu spät begriff sie, dass sie nicht auf den Verkehr geachtet hatte. Ein Lieferwagen kam quietschend zum Stehen. Der Fahrer begann laut zu hupen. »Hey, ich glaube, du brauchst männlichen Schutz«,

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