Märchenmord
Nikolajs Wohnung gehen sollte. Angst überkam sie. »Aber wir können doch nich t einfach aufgeben. Karim ist hinter mir her. « »Weißt du was? Ich habe keine Ahnung, wie ich dir helfen soll . Najah ist tot.« Sie gab dem Skateboard einen Stoß. »Vielleich t solltest du dasselbe machen wie dein Freund. Nach Hause gehe n und schlafen und morgen rufst du diesen Ravel an. « »Und was, wenn es ein Morgen für mich gar nicht gibt? « »Dann weiß ich auch nicht weiter«, sagte Pauline genervt . »Kannst du auch etwas anderes als Fragen stellen? « »Was ist mit diesem Julien? Vielleicht hat der eine Ahnung , wie… « »Der hängt irgendwo in Südfrankreich herum und amüsier t sich. « »Vielleicht weiß er mehr und kann uns helfen, Karim zu überführen. «
»Wie denn? Er ist doch der Grund für all das. Dass Najah tot ist und Karim dich verfolgt.« »Aber dennoch … ich meine, wenn dieser Julien sie wirklich liebt…« »Was verstehst du schon von der Liebe? Oder ist dieser Noah, mit dem du da rumhängst, vielleicht dein Typ?« »Er ist ein Freund.« »Ein Freund. Was denn? Geht ihr miteinander? Lass die Finger davon. Du siehst doch an Najah, dass Männer nur Unheil anrichten. Egal, ob sie Julien oder Karim heißen. Ob sie Geld haben oder Ziegen hüten. Meinst du etwa, der rettet dich, bringt dich auf seine Arche, nur weil er Noah heißt?« »Was regst du dich so auf? Du bist doch überhaupt schuld, dass Najah tot ist. Hättest du sie nicht in diese Wohnung gebracht, wärt ihr gleich zur Polizei gegangen oder zu irgendeiner Hilfsorganisation, die sich um Mädchen wie Najah kümmert. So etwas gibt es doch sicher auch in Paris.« Pauline blieb abrupt stehen. Ihre roten Haare glänzten im Licht der untergehenden Sonne vor dem tiefblauen Himmel über Paris glutrot. »Erzähl du mir nicht, woran ich schuld bin oder nicht! Weißt du, wie du mir vorkommst? Wie ein Kamel. Jawohl. Du trabst hinter diesem Noah her und jammerst die ganze Zeit, wie schlimm alles ist. Klar ist es schlimm. Sag mal, wo kommst du überhaupt her? Aus dem Schlaraffenland? Sieht doch jeder, dass deine Eltern dich total verwöhnt haben. Du kennst das richtige Leben ja gar nicht. Das, was Najah zugestoßen ist, das passiert Tausenden, ach was, Millionen von Mädchen auf unserer schönen Erde. Und da kann kein Gott, kein Allah, kein Amulett etwas dagegen machen…« »Weiß ich doch!«, schrie nun Gina. »Weiß ich doch selbst.« »Laisse-moi tranquille«, brüllte Pauline, drehte sich um, knallte das Skateboard auf das Trottoir, holte Schwung und weg war sie.
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Zwanzi g
D ie Straßen in Paris waren unendlich lang. Obwohl die Rue Daguerre nur um die Ecke lag, wie Pauline es formuliert hatte, dauerte der Rückweg mehr als eine halbe Stunde. Gina war völlig erschöpft und ihr taten die Beine weh vom Laufen. Auch Pauline war gegangen, hatte sie im Stich gelassen. Als sie auf der Höhe von Monsieur Saïds Laden war, hielt Gina unwillkürlich Ausschau nach Noah. Doch er war nirgends zu sehen. Natürlich nicht, er war zurück in die Vorstadt gefahren und aus irgendeinem Grund sauer auf sie. Monsieur Saïd nickte ihr durch das Fenster seines Ladens zu, kam aber nicht heraus, um sie zu begrüßen. Sie fragte sich, ob er je Feierabend machte. Musste er wohl. Immerhin hatte er Noah gestern vor der Tür stehen lassen. Langsam ging sie auf das Haus zu, in dem Nikolajs Wohnung lag. Es fiel ihr schwer, das Haus Nr. dreizehn nicht anzustarren. Noch hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, Najah könnte wieder dort oben am Fenster in vierten Stock stehen. Ja, sie wusste, dass dahinter nur ein vom Ruß verschmiertes Zimmer lag, aber dennoch ließ die Frage sie nicht los. Was war mit Najahs Leiche passiert? Als sie vor der Haustür ankam, blieb sie einige Sekunden stehen, holte tief Luft und biss die Zähne aufeinander. Sie versuchte, ihren Kopf klar zu bekommen und sich auf die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter vorzubereiten. O. k., es war ziemlich rücksichtslos gewesen, sich den ganzen Tag nicht zu melden.
Sie wusste, dass ihre Mutter sicher schon halb wahnsinnig war vor Angst, aber, Gina spürte es ganz deutlich, sie hatte ihrer Mutter noch nicht verziehen. Als sie dann jedoch mit klopfendem Herzen Nikolajs Wohnung betrat, war alles ruhig. Wie ausgestorben. Eine Leere lag über dem Appartement vergleichbar mit der Stille der Ewigkeit. »Maman?« Niemand antwortete. Ihr Blick fiel auf die Standuhr. Es war kurz vor neun. Verdammt noch mal, wo war sie denn?
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