Märchenmord
Blick fiel auf sie. Sie war an der Reihe. Si e musste den Beamten überzeugen, sonst war sie verloren. »De r Brand vor zwei Tagen in der Rue Daguerre, haben Sie davon gehört? « Er runzelte die Stirn. » Oui . Das ist ja schließlich hier gleich u m die Ecke. « »Da habe ich das Mädchen gesehen. In der Wohnung. Und dan n kam dieser Mann, er heißt Karim, er ging mit einem Dolch au f sie los… « »Einem Dolch?«, unterbrach sie der Beamte. »Na, erzähl mir keine Schauergeschichten. « »Es ist wahr, Sie können Monsieur Ravel fragen, und nun sucht Karim nach mir. Ich bin die einzige Zeugin. Das habe ich alle s schon Monsieur Ravel erzählt. Wenn sie ihn holen, er kennt mich. « »Ravel ist nicht hier. Er wurde vor circa zehn Minuten von eine r Frau abgeholt. Scheint ein heißes Date zu werden, so eilig wi e die beiden es hatten. Aber wenn du ihm schon alles erzählt hast , was willst du dann noch hier? « »Er hat mir nicht geglaubt, aber jetzt haben wir Beweise. « »So, er hat dir nicht geglaubt? Und warum sollte ich das tun? « »Weil es um Leben und Tod geht! Kapieren Sie das nicht?!« , schrie Pauline und knallte das Skateboard auf den Marmorfußboden . »Ihr solltet nicht so viele Krimis schauen oder diese Spiele au f dem Computer spielen. « »Aber es ist die Wahrheit«, sagte Gina flehend. Sie hatte Mühe , die Tränen zu unterdrücken . »Warum hat sich Ravel dann nicht darum gekümmert, wenn e s doch, wie ihr sagt …«, er grinste ekelhaft, »um Leben und To d geht? « »Weil …«, Gina begann zu stottern, »weil, er sagte, wenn niemand das Mädchen als vermisst gemeldet hat, dann kann di e Polizei nichts unternehmen. « »Da hat er recht.« Der Beamte zuckte gleichgültig die Schultern . »Aber wir«, schrie Pauline, »wir melden sie doch jetzt als vermisst. « »Seid ihr mit dieser…wie heißt sie? « »Najah. « »Najah? Ihr erzählt mir hier Märchen, oder? « »Nein.« Gina bemühte sich erneut, ruhig zu bleiben . »Und seid ihr mit dieser Najah verwandt? « »Nein. « »Dann könnt ihr sie auch nicht als vermisst melden. « »Aber sie ist doch verschwunden. «
»Ob jemand verschwunden ist, das können nur die beurteilen, die mit der betreffenden Person in einem Haushalt leben oder in regelmäßigem Kontakt stehen.« »Hey, ich stehe in regelmäßigem Kontakt mit ihr«, rief Pauline. »Ich habe ihr Essen gebracht in die Wohnung. Und jetzt…« »Du bist erst…wie alt bist du?« »Vierzehn.« »Aha. Also vielleicht kommst du besser mit dem Onkel deiner Freundin vorbei.« »Aber er ist es doch, vor dem sie weggelaufen ist, merde . Verstehen Sie denn gar nichts? Haben Sie Watte in Ihren Ohren, oder was?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Hey, hey, immer mit der Ruhe. Wir bringen täglich Kinder zu Eltern zurück, vor denen sie weggelaufen sind. Der Mann gerade zum Beispiel. Dem ist der Sohn irgendwo am Meer verloren gegangen und jetzt meldet er ihn in Paris vermisst. Was will ich hier schon machen? Bis zum Meer sind es Hunderte von Kilometern. Nicht, dass ich nicht Lust hätte, dorthin zu fahren. Aber unsereins kann sich das nicht leisten wie Monsieur, le docteur .« »Das ist zum Wahnsinnigwerden.« Pauline lief rot an. »Was seid ihr nur für Scheiß…« »Hey, hey, sei vorsichtig, was du sagst.« Der Beamte stellte sich jetzt direkt vor Pauline, die keinen Zentimeter zurückwich. Gina zuckte zusammen. Das war ihr Ende. Jetzt würden sie es nicht schaffen, den Polizisten zu überzeugen. Sie zog Pauline am T-Shirt. »Pauline, wir gehen. Das hat keinen Sinn. Wir suchen nach Monsieur Ravel. Meine Mutter hat vielleicht seine Nummer.« »Nein, ich möchte, dass uns jemand hilft.« Ein Mädchen wie Pauline brach nicht in Tränen aus, sondern begann, auf Französisch zu fluchen.
Das Telefon klingelte. Die Hand des Mannes lag bereits auf dem Hörer, als er sich abwandte und gleichgültig zu Pauline sagte: »Genau, komm mit deiner Mutter wieder.« Und dann schlug er ihnen die Bürotür vor der Nase zu.
*
»Idioten sind das!« Pauline fuhr in schnellem Tempo die Straß e entlang, wobei sie immer wieder den Bürgersteig hoch-un d runterkrachte. »Einfach Idioten! Wofür halten die uns eigentlich? Für irgendwelche Spinner? « »Für Teenager!« Gina hatte Mühe zu folgen . »Genau. Teenager, Spinner, Irre, das ist für die dasselbe. « »Und nun? « »Was und nun? Was fragst du mich? « »Aber wir müssen doch etwas tun.« Gina konnte sich nicht vorstellen, dass sie jetzt einfach zurück in
Weitere Kostenlose Bücher