Märchensommer (German Edition)
Heim besucht. Ich war bereit, mit dir nach Hause zu gehen. Warum bist du nicht wiedergekommen? Warum hast du dein Versprechen gebrochen, Mom?“
Einen Moment lang fummelte sie an ihrem Taschentuch herum. „Ich habe es geschafft, mein Leben in den Griff zu bekommen, und alles für uns beide vorbereitet. Aber an dem Tag, als ich dich holen wollte, tauchte John vor meiner Tür auf. Er wurde etwa zur gleichen Zeit wie ich entlassen, und er schaffte es so leicht, sich wieder in mein Leben zu drängen. Er versprach mir hoch und heilig, er habe sich im Gefängnis verändert, dass er clean sei und ein neues Leben mit mir beginnen wolle. Doch nur wenige Stunden später hätte er mich beinahe umgebracht. Er war betrunken und wieder auf Drogen. Gar nichts hatte sich verändert. Und ich konnte auf keinen Fall zulassen, dass dieser Mann je wieder in deine Nähe kam.“
Sie wischte sich die Nase mit dem Taschentuch ab. „Ich versuchte, vor ihm zu fliehen und mich zu verstecken. Doch wohin ich auch ging, er fand mich immer wieder. Dann, eines Tages, kam er nicht mehr nach Hause. Ich las zwei Wochen später in einer alten Zeitung, dass die Polizei die Leiche von John Malton gefunden hatte. Er wurde offenbar bei einem Drogendeal getötet. Das war nur wenige Tage nachdem ich herausfand, dass ich an Krebs leide.“ Meine Mutter stopfte das Taschentuch zurück in ihre Tasche und ließ den Kopf hängen.
Am Ende hatte ich meine Antworten bekommen. Keiner von uns hatte es leicht gehabt in seinem Leben. Leise erhob ich mich von der Bank und ging um den Tisch herum. Ich setzte mich neben sie, schlang meine Arme vorsichtig um ihren zerbrechlichen Oberkörper und legte meinen Kopf auf ihre Schulter.
Ein underdrücktes Wimmern folgte ihrem Schniefen, als auch sie mich umarmte, und ihre Tränen sickerten in mein Haar. „Ich danke dem lieben Gott für diesen Moment!“
Ich dankte ihm nicht.
Gott hatte keine Ahnung, was es für mich bedeutete, meine Mutter so halten zu können, und gleichzeitig zu erkennen, dass es vielleicht das letzte Mal sein würde. Ich wusste nicht wohin mit dem Schmerz, doch eines war sicher: Ich würde ihn nicht herauslassen. Meine Mutter sollte sich keine Sorgen um mich machen müssen.
Doch ich hatte sie, im Gegensatz zu ihr selbst, noch lange nicht abgeschrieben. Keinesfalls würde ich Gott erlauben, sie mir einfach so wieder wegzunehmen—und mit ihr jemand, den ich genauso sehr liebte wie sie. Es musste einen anderen Weg geben. Und ich würde ihn finden.
Eine Wolke aus Wärme und Gelassenheit legte sich plötzlich um mich und nahm mir einen großen Teil des Schmerzes, der in meiner Brust ankerte. Meine Mutter schien es ebenfalls zu spüren, denn sie hob ihren Kopf mit einem erleichterten Seufzen und lächelte.
Der Engel war zurück.
Ich ließ meine Mutter los und warf einen Blick über meine Schulter. Julian lehnte wie immer lässig an der Hauswand, mit beiden Händen in den Hosentaschen. Sein friedvoller Ausdruck konnte jedoch die Traurigkeit in seinen Augen nicht verschleiern.
„Hast du kurz einen Moment für mich?“, fragte ich ihn.
„Jederzeit, Jona.“ Mit einem versteckten Lächeln kam er zu uns rüber. „Lass uns aber erst deine Mutter wieder ins Bett bringen. Sie sieht müde aus.“
Mom hakte sich dankend bei ihm unter und ich folgte den beiden in ihr Zimmer. Als sie sich hingelegt hatte, deckte ich sie zu, als wäre ich die Mutter und sie das kranke Kind, und versprach, in ein paar Minuten wiederzukommen. Doch erst musste ich einen Weg finden, um sie bei mir behalten zu können.
Noch bevor Julian und ich aus dem Zimmer schlichen, war sie bereits wieder in diesen unheimlichen Tiefschlaf gefallen. Es machte mir Angst.
Julian schloss leise die Tür hinter sich. „Wohin möchtest du gehen?“
Ich zuckte mit den Schultern. Es war mir ganz egal, solange wir nur zusammen waren. Doch dann wusste ich plötzlich ganz genau, wohin ich wollte. Ich nahm seine Hand und zog ihn hinter mir die Treppe rauf in mein Zimmer und raus auf den Balkon. Julian zog mich vor der offenen Balkontür zurück. „Bist du sicher, dass du da raus willst? Wir können auch hier drinnen bleiben.“
Meine Höhenangst war bereits im Vormarsch, doch ich hatte nicht vor zu kneifen. „Mach du nur, was du sonst auch immer mit mir tust und lass mich nicht los. Dann wird’s schon gehen.“
Julian nickte und ich fühlte mich wohl. Er folgte mir nach draußen. Dabei war seine Hand ständig fest um meine geschlossen. Ich zog ihn
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