Märchensommer (German Edition)
Zimmertür drehte ich mich um und blickte Julian noch einmal lange in die Augen. Sie waren so wunderschön. Ich hoffte von ganzem Herzen, dass ich sie schon bald wiedersehen würde.
So wie er gerade seinen Kopf neigte, fragte ich mich, ob er ahnte, dass ich über etwas brütete. Doch ich gab ihm keine Zeit für Fragen. Stattdessen nahm ich sein Gesicht in beide Hände, stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn ein letztes Mal.
Julian öffnete seinen Mund für mich und begann langsam meine Zunge mit seiner zu umspielen, während seine Arme sich fest um mich legten. Ich zerbrach beinahe an dem Schmerz in meiner Brust, als ich den Kuss beendete, mich von Julian löste und in mein Zimmer eilte.
Das Klicken, als ich den Schlüssel im Schloss umdrehte, war wie ein Startsignal für mein Vorhaben. Ich kauerte mich auf meinem Bett in die Ecke und wartete. Fünfzehn Minuten. Dabei schwelgte ich in den wunderbaren Erinnerungen der letzten beiden Wochen. Dann war es so weit. Ich schlich mich leise aus meinem Zimmer und im Dunkeln die Treppe hinunter.
Um meinen Plan ausführen zu können, brauchte ich eine Waffe. Und ich wusste genau, wo ich eine finden würde.
28. Engelstränen
ALBERTS STUDIERZIMMER WAR dunkel und still. Ich wagte es nicht, das Licht anzuknipsen, doch ich zog die Vorhänge zurück, die Marie jeden Abend zumachte. Trauriges Mondlicht fiel durch das Fenster.
Von der Wand nahm ich eine der beiden Duellpistolen. Die rechte. Die, von der mir Albert versichert hatte, dass sie geladen war. Ich hatte keine Ahnung, womit die Männer früher ihre Waffen luden—eine Kugel, Schrot, was auch immer. Doch es sollte genügen, um mich mit einem Schuss in den Kopf zu töten.
Langsam wanderte ich um den Tisch und stellte mich wieder vor das Fenster. Kurz kam mir der Gedanke, noch schnell einen Abschiedsbrief für Marie und Albert, die mir mittlerweile fast so nahe wie richtige Eltern standen, zu schreiben. Und vielleicht auch einen für meine Mutter, in dem ich ihr erklären würde, dass ich versucht hätte, den Platz mit ihr zu tauschen, doch dass mir das nicht erlaubt worden war. Ein Brief an Julian wäre wohl kaum notwendig. Er würde wissen, warum ich mein Leben gleich beendete. Und er könnte mich später dafür schimpfen, so viel er wollte—wenn wir uns im Himmel wiedersahen.
Ich holte tief Luft und nahm dabei all meinen Mut zusammen. Dann hob ich den Lauf der Pistole an meine rechte Schläfe, mit dem Finger am Abzug.
„Jona! Tu das nicht!“
Der Schock in Julians Stimme hinter mir fuhr mir durch Mark und Gebein. Beinahe drückte ich aus Schreck vorzeitig ab. Seine Präsenz presste von allen Seiten gegen meinen angespannten Körper.
Ich drehte mich langsam um. „Lass mich allein.“
Julian bewegte sich keinen Millimeter.
Ich hielt die Waffe immer noch gegen meinen Kopf gerichtet und spannte den Hahn. Im Prinzip war es mir egal, ob er mir dabei zusah. Ich würde mein Vorhaben so oder so durchziehen.
Seine Arme hingen nach unten und seine Hände waren zu Fäusten geballt. So stand er reglos in der Tür. Wahrscheinlich hatte er Angst, er würde mich zu einer überstürzten Reaktion drängen, wenn er näher käme.
„Was willst du damit erreichen?“, fragte er mich leise, aber doch eindringlich.
„Wenn ich schon nicht den Platz meiner Mutter einnehmen kann, dann will ich wenigstens mit euch beiden gehen.“ Mein Tonfall hatte etwas von Ruhe und Unerschütterlichkeit. Das überraschte mich in Anbetracht dessen, dass ich mir gleich das Gehirn aus meinem Schädel blasen wollte.
„Bitte! Leg die Waffe weg.“ Er machte dabei sachte Abwärtsbewegungen mit seinen Händen.
„Oh nein! Du kannst mich hier nicht allein zurücklassen. Du glaubst doch nicht wirklich, dass du heute Nacht oder irgendwann morgen Früh mir nichts dir nichts aus meinem Leben spazieren kannst und ich das einfach so hinnehme?“ Ein verzweifeltes Lachen platzte aus mir heraus. „Das geht nicht! Ich werde das nicht zulassen. Ich will mit euch kommen! Und wenn das hier die einzige Möglichkeit ist, die mir bleibt, dann soll es eben so sein.“ Der Lauf der Pistole war während meiner immer zittriger werdenden Worte etwas nach unten gerutscht, doch ich richtete ihn wieder entschlossen auf meine Schläfe. „Ich lasse dich nicht alleine gehen.“
„Jona, leg jetzt verdammt noch mal diese Waffe weg! Selbstmord steht dir nicht zur Wahl.“
Julian hatte kein Wort verstanden. Für mich war das hier kein Selbstmord. Hätte ich
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